Die Instrumentalisierung des Konflikts

■ Nach dem Rücktritt Mutalibows werden moderate Positionen in der Karabach-Frage kaum Widerhall finden

Noch im September letzten Jahres konnte Ayaz Mutalibow in einem zugegebenermaßen zweifelhaften Urnengang über 80 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen. Er kandidierte als einziger um das Präsidentenamt Aserbaidschans. Zahlreiche oppositionelle Bewegungen bezichtigten ihn damals, andersdenkende politische Strömungen mit Gewalt unterdrückt zu haben. Mutalibow repräsentiert den typischen Politikerschlag der Übergangsperiode. Bis über beide Ohren mit dem alten System verstrickt, sogar von ihm eingesetzt, um dessen Überleben zu gewährleisten, vollzog er im letzten Moment eine radikale Kehrtwendung und machte sich zum Sachwalter fundamentaler Neuerungen.

Anfang 1990 übernahm er die Führung in Baku. Am 20. Januar hatte die Sowjetarmee auf Geheiß Gorbatschows in einem blutigen Akt Anhänger des radikalen Flügels der Volksfront zum Schweigen gebracht, die in einigen Orten die Macht an sich gerissen hatten. In Baku schlachteten wildgewordene Fanatiker Angehörige der armenischen Minderheit nieder. Insgesamt starben 150 Menschen. Mutalibow wurde damals zum Ersten Sekretär der völlig diskreditierten Partei. Mit reformerischen Parolen, der Verhängung des Ausnahmezustands und Appellen zur Versöhnung gelang es ihm, noch einmal die schwankenden Balken der Herrschaft zu stützen. Vor nationalistischen Obertönen schreckte auch er nicht zurück. Den Augustputsch in Moskau soll er begrüßt haben. Große Mühe bereitete ihm seither dessen Dementi.

Doch die Ausgangsbedingungen haben sich im letzten halben Jahr in Baku verändert. Mutalibow gehörte in dem Konflikt um die armenische Enklave Nagorny-Karabach zu den gemäßigten Kräften, die zunehmend an Einfluß verloren. Mit seinem Rücktritt bricht auch die labile Statik zusammen, für die die Kräfte der alten Nomenklatura gesorgt hatten. Die Rücktrittsforderungen der Opposition beschränken sich nicht nur auf die Führung. Auf allen Ebenen der Exekutivmacht will sie die Verantwortlichen auswechseln. Bei der derzeitig haßerfüllten und aufgeheizten Atmosphäre ist klar, daß kaum moderate Positionen Widerhall finden. Das zeigte bereits die Diskussion um die Aufstellung einer eigenen Armee. In den Augen der Opposition sollte sie zu einem Machtinstrument der noch amtierenden Nomenklatura gemacht werden. Der Kampf um Nagorny-Karabach wurde instrumentalisiert, um einen radikalen Machtwechsel zu vollziehen. Die Schwierigkeiten, vor denen Aserbaidschan innenpolitisch jetzt steht, legen nahe, daß der Karabach- Konflikt auch weiterhin für innenpolitische Manipulationen mißbraucht wird.

Darüber hinaus gerät auch der von Mutalibow eingeschlagene Weg, seine „türkische Orientierung“, politisch wie wirtschaftlich ins Wanken. Den Westen warnte er deshalb kürzlich, Armenien in dem Kampf nicht einseitig zu unterstützen. „Wollen Sie denn noch einen islamischen Staat?“, gab er zu bedenken. Seit dem Auseinanderbrechen der UdSSR buhlen sowohl die Türkei — in den Fußstapfen des ottomanischen Reiches — als auch der Iran — als Nachfolger des persischen Imperiums — um den Einfluß in Baku. Bisher waren die Verbindungen zwischen Iran und den Aseris eher kultureller Natur. Wie die Iraner sind auch die Aseris moslemische Schiiten. Viele Aseris leben in Südaserbaidschan, das heute zum Iran gehört. Die Türken lieferten Zehntausende Schreibmaschinen, damit die Aseris ihr Alphabet vom Kyrillischen auf das Lateinische umstellen können; die Iraner versuchen sie zur Übernahme des Arabischen zu bewegen.

Auch innerhalb der Opposition wird jetzt der Kampf um das „Vorbild“ einsetzen. Die Türkei hatte, so Mutalibows Einschätzung, wirtschaftlich mehr zu bieten als der Iran, der höchstens mit Teppichen, Pistazien und Öl aushelfen kann. Das was Baku an Produktions- und Konsumgütern gerade für die Übergangsperiode benötigte, ließe sich in Kooperation mit der Türkei beschaffen. Ob sich die aufgeklärte aserbaidschanische Intelligenz gegenüber realitätsblinden Fanatikern durchsetzen wird, bleibt äußerst fraglich. Klaus-Helge Donath, Moskau