Im Konflikt um Nagorny-Karabach droht eine Eskalation: In Baku bestimmtdie Volksfront
■ Unter den Anhängern der aserbaidschanischen Volksfront herrschte nach der Abdankung von Präsident Mutalibow in der Nacht zum Samstag in Baku...
In Baku bestimmt die Volksfront Unter den Anhängern der aserbaidschanischen Volksfront herrschte nach der Abdankung von Präsident Mutalibow in der Nacht zum Samstag in Baku Jubelstimmung. Die neue Regierung indes will Nagorny-Karabach auf keinen Fall den Armeniern preisgeben.
Lachend hält der Uniformierte eine Kugel in den Händen. „Es ist schade, diese Kugel hatte ich für Mutalibow aufgehoben. Nun hat er sich entzogen.“ Unter den Anhängern der aserbaidschanischen Volksfront, eines politischen Zusammenschlusses, dem alle politischen Strömungen gegen die alte sowjetische Parteibürokratie angehören, herrscht in den Stunden seit dem Rücktritt von Präsident Ayaz Mutalibow Jubelstimmung. Der Sturz Mutalibows, auf den die Volksfront seit Jahren hingearbeitet hat, ist nun Wirklichkeit geworden. Vor dem Sitz der Volksfront in Baku, der früheren Bezirkszentrale der KP, führen Hunderte Menschen erregte Debatten. Ein junger Mann bringt mit seiner Einschätzung vom gestürzten Präsidenten die Stimmung der Menge auf den Punkt: „Mutalibow hat geschworen, das Vaterland zu verteidigen, doch er hat sein Wort gebrochen.“
Tausende zogen nach dem Rücktritt des Präsidenten mit aserbaidschanischen Fahnen jubelnd durch die Straßen von Baku. „Azetlik“, Freiheit, heißt das Stichwort. Die Politisierung der Bevölkerung der Hauptstadt ist nicht zu übersehen. In den Kneipen wird angestoßen auf den Abgang des verhaßten Präsidenten. Der aserbaidschanisch-armenische Konflikt und letztendlich das Massaker an den Bewohnern des aserbaidschanischen Dorfes Hocali hat ihm den Kopf gekostet. Noch Tage nach dem Tod von über tausend Zivilisten in Hocali hatte der Präsident versucht, Nachrichten über das Massaker zu unterdrücken. So wurde beispielsweise das türkische Fernsehprogramm, das täglich eine Stunde lang über aserbaidschanische Sender ausgestrahlt wird, abgesetzt, weil in der Nachrichtensendung Bilder von den Toten in Hocali gezeigt wurden. Als in der vergangenen Woche auf der Pressekonferenz Mutalibows ein Journalist die Desinformationskampagne des Präsidenten thematisierte, wurde er als „Provokateur“ und als „Agent Armeniens“ des Saales verwiesen. Die Berichte über die Ereignisse von Hocali jedoch verbreiteten sich wie ein Lauffeuer. Auch als Mutalibow Ende vergangener Woche eine Kehrtwendung vollzog und plötzlich die Zusammenarbeit Rußlands mit Armenien für die Geschehnisse in Nagorny-Karabach verantwortlich machte, konnte ihn das nicht mehr retten. Selbst Gasan Gasanow, der aserbaidschanische Ministerpräsident, auch er ein Mann aus der alten Sowjetbürokratie, sprach vom „Verrat“ des Präsidenten.
Mit 10.000 Rubeln den Abschied versüßt
„Mutalibow — Mörder“ und „Trete zurück“, lauteten die Parolen Tausender Menschen, die am vergangenen Donnerstag und Freitag das Parlamentsgebäude, das auf einem Hügel mit Blick auf das Kaspische Meer gelegen ist, umzingelt hatten. Die erregten Demonstranten wollten nicht eher ablassen, bevor nicht Mutalibow zurücktrat, und ließen auch in der Nacht die Abgeordneten nicht aus dem Gebäude. Daß die alten Machthaber sogar russische Soldaten, die außerhalb Bakus stationiert sind, zu ihrem Schutz herbeiriefen, brachte dann das Faß zum überlaufen. Schließlich erklärte dann Mutalibow, der mit leiser Stimme eine kurze Rede vor dem Parlament hielt, seinen Rücktritt: „Ich scheide aus dem politischen Leben aus.“ Das Parlament Aserbaidschans, das mehrheitlich von Parteiapparatschiks besetzt ist, versüßte ihm seinen Abschied schließlich noch mit einer Pension von 10.000 Rubeln auf Lebenszeit.
„Es war schon ein Wunder, daß es kein Blutvergießen gab. Es hätte auch wie in Georgien mit Gamsachurdia oder wie in Rumänien mit Ceausescu enden können. Es zeigt die Reife der demokratischen Kräfte, die Blutvergießen verhindern wollten, Mutalibow aber so sehr in die Enge getrieben hatten, daß er gar nicht mehr anders konnte“, kommentiert Halid Aelimirzeyev von der „Vereinigung demokratischer Kräfte“, einem Zusammenschluß aserbaidschanischer Intellektueller, den Abgang Mutalibows. Es wäre seiner Meinung nach eine grundlegende Fehleinschätzung, in der Frage Nagorny-Karabach Mutalibow als Taube, die Volksfront dagegen als Falken zu bezeichnen. Mutalibow war verhaßt. Es ist ein offenes Geheimnis in Baku, daß der Ex- Kommunist die Gesetze zur Privatisierung zu seiner eigenen Bereicherung genützt hat; Hilfslieferungen, die staatliche aserbaidschanische Stellen aus dem Ausland empfangen, werden in Baku allzuoft auf dem Schwarzmarkt verscherbelt.
Jetzt ist die Volksfront endgültig die entscheidende politische Macht in Baku. Eine Regierung ohne die Volksfront scheint ausgeschlossen. Der vor wenigen Tagen neugewählte Parlamentspräsident Jagub Mamedow, der der Volksfront nahesteht, ist laut Verfassung nach dem Rücktritt des Präsidenten amtierendes Staatsoberhaupt. Ministerpräsident Gasan Gasanow soll binnen zehn Tagen eine neue Kabinettsliste vorlegen. Faktisch ist auch das aserbaidschanische Parlament entmachtet. Und die Wahl eines neuen Präsidenten, der wie Mutalibow alle Schlüsselpositionen der Macht kontrollierte, scheint ausgeschlossen. „Es muß ein Wahlgesetz verabschiedet, und noch in diesem Jahr müssen Wahlen abgehalten werden“, sagte Aliasker Siyabli, einer der Führungspersönlichkeiten der Volksfront. Hauptziel der neuen Regierung müsse es sein, den Konflikt um Nagorny-Karabach, wo die Gewalt eskaliert, zu lösen. Siyabli aber läßt keinen Zweifel daran, daß die Waffen sprechen werden: „Nagorny-Karabach gehört zu Aserbaidschan. Als Volksfront geben wir den Armeniern dort Garantien für ihre kulturelle Autonomie. Die bewaffneten armenischen Banden aber müssen raus.“ Ömer Erzeren, Baku
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