Winde ohne Fluten

■ Richter-Inszenierung zur „Strumflut“ bedrängte das Opernpublikum nicht allzu heftig

Viel Vergnügen! Wenn man Richard Wagner glauben darf, beruht die den Opernbesucher schier überwältigende Wirkung des Musiktheaters darauf, daß Wort, Musik, Bild, Raum und Licht zusammenspielen und sich zum Gesamtkunstwerke fügen.

Ähnlich verhält es sich, wie der norddeutsche Küstenbewohner weiß, bei einer Sturmflut. Eine glückliche Stellung des Mondes, ein kräftiger Wind aus geeigneter Richtung, eine sich elegant verengende Flußmündung und eine geschickte Anlage der Deiche trifft selten zusammen. Wenn sich aber eins ins andere fügt, dann ist dem Küstenbewohner wohl ein überwältigendes Erlebnis sicher, nicht aber das Überleben.

Eine Sturmflut war angekündigt von der scheidenden Intendanz des Theaters am Goetheplatz. Shakespeares letztes burlesk-altersweises Werk „Der Sturm“ im Spiegel der Musik, des Theaters, des Films und der bildende Künste sollte Bremens Kulturleben überrollen.

Die erste massive Welle, die Premiere der Oper „Der Sturm“ am vergangenen Sonntag im Goethethater, hat den kunstbeflissenen Küstenbewohner nicht allzu heftig bedrängt.

Shakespeares Verse in Schlegels Übertragung, in Töne gesetzt von Frank Martin, einem Schweizer Meister der „klassischen“ Moderne, musikalisch geleitet von Ira Levin, inszeniert vom Hausherrn Tobias Richter und bebildert von Markus Lüpertz, dem bedeutenden Maler und Bildhauer, dem Vorbild — so das Theaterheft — des Neoexpressionismus der späten 80er Jahre boten den Stoff für Richters dritten und letzten Versuch, Musiktheater und exponierte Gegenwartkunst aufeinander loszulassen. Richters Ziel war nie, den wagnerschen Gesamtkunstrausch zu erzeugen, konzipiert war, aus Spannungen und Brüchen Gewinn zu ziehen. Der Widerspruch von Bild und Ton sollte produktiv werden. Doch auch dieser Versuch läßt eher Ratlosigkeit zurück. Weder Erlebnisverdichtung nach Wagnerscher Strickart, noch produktive Konfrontation nach Richters Konzept ist zu vermelden, Bühne und Musik standen beziehungslos nebeneinander. Beides auf seine Art beeindruckend, sich aber leider wechselseitig störend. Wenn der Wind aus der falschen Richtung bläst, das weiß man, nützt die schönste Flut nichts.

Wie kommt's? Frank Martin hat zum Sturm kein Musikdrama geschrieben. Die theatralische Zuspitzung der dramatischen, zauberhaften und skurrilen Situationen ist seine Sache nicht. Martin wählte einen reflektierten, behutsamen Zugang zum geliebten Stoff. Jeder Szene lauscht er ihren dominanten Grundton ab und entwickelt daraus „flächige“, den verschiedenen Handlungsebenen zugeordnete Tableaus, die oratorienhaft montiert werden. Prospero ergeht sich im dunkel temperierten, weihevollen, an Debussy gemahnenden Dauerparlando, Ariel der Luftgeist erhält ein zart-schillerndes Kammerorchester mit Kammerchor zugewiesen, wenn er nicht gerade eine Naturkatastrophe entfesselt, die gestrandeten Potentaten, an denen sich der gerechte Zorn des Magiers entzündet, werden mit urbanen Klängen aus verrauchten Jazzkellern gezeichnet, und Caliban samt seiner ordinären Saufkumpane darf zu Schweizer Fassenachtsmusik herumkaspern.

Eine derartig wenig theatergerechte Musik braucht Bilder, die ihr Raum zur Entfaltung lassen, die auf ihre Konstruktion eingehen. Lüpertz hat ihr keine Luft gelassen. Er zaubert in grellen Weißtönen einen märchenhaften Bühnenraum mit filigranen „flapsigen“ Strichen, die den Charme des Strayers von Zürich versprühen. In dieser, zumeist im mediteranen Mittagsglanze erstrahlenden Welt tummeln sich weiß-pastellich kollorierte, skurile oder würdevolle Gestalten. Man wünschte sich derartige Bilder zu einem flotten Stravinski, es paßt auch großartig zu einer Serenade des mittleren Schönberg. Großartig könnten sie auch als Kontrast zum wagnerschen oder straußschen musikalischen Identifikationsterror wirken. Bei Martin allerdings walzt Lüpertz alles nieder.

Unentschieden zwischen Martin und Lüpertz, Oratorium und Shakespeare-Company steht Tobias Richters Inszenierung.

Schade drum, denn die musikalische Präsentation unter Ira Levins Leitung läßt kaum Wünsche offen. Ein homogenes und diszipliniertes Sängerensemble und das zu feinsten Abstufungen fähige Bremer Philharmonische Staatsorchester brachten Martins musikalischen Kommentar in allen Farbnuancen zum Glühen. Lediglich das Bühnenorchester klang etwas synthetisch.

Lohnend, weil hörens- oder sehenswert, ist ein Besuch allemal, zumal der Besucher mit einem äußerst lesenswerten Programmheft verwöhnt wird. Beneidenswert ist allerdings der, der es vermag, seine audiovisuelle Gesamtpersönlichkeit aufzuspalten.

Mario Nitsche