Zwölf Frauenbeine

■ Das Dorowa-Ensemble tanzte vor vollem Haus Flamenco-Impressionen im Potsdamer »Lindenpark«

Nach Potsdam führen zwei Wege. Einer durch die Stadt und einer um die Stadt herum. Beide sind, von Kreuzberg aus gesehen, ziemlich weit. Genaugenommen überschreitet man Ländergrenzen und wechselt von Hauptstadt zu Hauptstadt. Wäre ich nach Osten gefahren, ich wäre in Polen gelandet. So, mich südwestlich haltend, kam ich nach Spanien. Im »Lindenpark« tanzte das »Dorowa-Ensemble« Flamenco.

Zwölf Frauenbeine machten Musik und den etwa 300 Zuschauern die Hölle heiß. Schon nach den ersten Minuten gelingt es keinem mehr, zurückgelehnt auf seinem Stuhl zu sitzen und nur zu konsumieren. Rücken richten sich auf, und die Zuschauer sind mit allen Sinnen auf der Bühne. Leider handelt es sich zum fast ausschließlich um deutsches Publikum — sonst wäre die Veranstaltung an sicher zu einer Fiesta mutiert.

Zapateado, Fandango, Tangos, Feuer und Seguiriya heißen die Flamenco-Impressionen im ersten Teil. Es gibt keinen Tänzer in der Truppe und, verdammt noch mal, es fehlt auch keiner! Die Frauen bringen eine derartig entfesselte Kraft auf die Bühne, daß es eine Freude ist. Der Flamenco bietet ihnen, wie kein anderer europäischer Tanz, die Möglichkeit dazu. Aufgerichtet tanzen sie in den Boden hinein, und die Energie, die sie nach unten abzugeben scheinen, schießt in ihre Körper zurück, bis in die Haar-, bis in die Fingerspitzen. So sind auch die leisen Stellen voll von energiegeladener Ruhe vor dem nächsten Sturm.

Urkomisch geht es zu, wenn sie, zu sechst in einer Reihe sitzend, einen Tango »tanzen«. Jeweils drei von ihnen bilden einen Teil des »Paares«, und mit den Stilmitteln des Flamenco, durchmischt mit Elementen des klassischen Balletts und des modernen Ausdruckstanzes, zeichnen sie, sitzend, den Verlauf eines Tangos nach. Wenn es dann auch noch Musik gibt, so kommt sie von Michael Lauer und seiner Gitarre. Er wird, ebenfalls auf der Gitarre, begleitet von Klaus Neumann. Die so erzeugte atemlose Faszination geht vom puren Rhythmus aus. Nach der Abort-Pause riecht der halbe Saal wie eine Mitropa-Toilette im Zug Rostock-Dresden, und zu allem Überfluß haben die Veranstalter immer noch nicht verstanden, daß zu einer Aufführung auch die Atmosphäre im Zuschauerraum gehört. Die Türen sind, während die Veranstaltung läuft, nicht besetzt, und das ständige Rein und Raus einiger Zuhörer, zusammen mit dem infernalischen Geruch, erinnert stark an Halle-Hauptbahnhof.

Das alles konnte aber den Wert der Darbietung nicht schmälern. Im zweiten Teil wird, frei nach der Erzählung von Garcia Lorca, das Stück Die Töchter der Bernarda Alba getanzt. Bernarda (Katja Piening) ist der Mann gestorben und somit ihren fünf Töchtern der Vater. Es zieht tiefe Trauer ins Haus ein, die für die jungen Töchter nur schwer zu ertragen ist. Eine Haushälterin (Almut Dorowa) versucht die Mädchen zurück ins Leben zu holen, was ihr für einen Moment gelingt — bis die Mutter zurückkommt und dem Treiben, mit der Kraft einer trauernden spanischen Witwe, ein Ende macht.

Die älteste Tochter, mit schlichter, eindrucksvoller Präsenz von Christiane Saiter getanzt, darf als einzige der Schwestern den Geliebten der jüngsten Tochter (Judith Schomaker) heiraten, was zu dramatischen Verwicklungen führt. Nach einer traumhaft schön getanzten Liebesnacht mit ihrem imaginären Geliebten wird die Jüngste von einer ihrer Schwestern (Celia Rojas) entdeckt, die sie mit ihren eigenen Haaren erdrosselt.

Almut Dorowa — geboren in Weimar — verbrachte ihre Jugend in Spanien. Im Alter von 19 Jahren gab sie ihr Flamenco-Debüt mit einem Solotanzabend in Barcelona. 1936 (in Worten Neunzehnhundertsechsunddreißig) vertrat Almut Dorowa bei einem internationalen Tanzfestival das Land Spanien und wurde mit einem Preis und dem Titel »Meisterin des Tanzes« ausgezeichnet. Später profilierte sie sich auch auf anderen Gebieten der darstellenden Kunst.

Nach dem Rückfall der DDR in den Spätkapitalismus bot sich die Möglichkeit, ein gemischtes Ost/ West-Ensemble aus professionellen Tänzerinnen und Amateuren zu bilden, die sich mit den immer aktuellen Inhalten des Flamenco wie Leben, Liebe, Verzweiflung, Tod, Kraft und Schwäche, Aufbäumen und Unterliegen befaßt. Daß das Dorowa- Ensemble dieses Stück frühestens im Oktober wiederaufnehmen wird, läßt zwar für den Herbst hoffen, bleibt jedoch, angesichts des herrschenden Mittelmaßes im angrenzenden Berlin, unverständlich. Man mag nicht glauben, daß die Truppe mit ihrem hervorragenden Stück keine weiteren Spielorte finden kann. Ralf Berger