KOMMENTAR
: Fragen an den Sozialstaat

■ Zum Umgang der Ämter mit dem Recht auf Staatsknete

Der Sozialstaat macht es möglich: Anspruch auf Staatsknete hat jeder, verhungern muß niemand. Nach dem legendären Warenkorbmodell berechnet, gibt es Geld für Kohlen, Bekleidung, Medien — man muß all diese Sonderleistungen nur beantragen. Trotzdem springt eine körperbehinderte Frau in den Landwehrkanal, aus Verzweiflung, weil ihr Geld vorne und hinten nicht reicht. Wie vielen Frauen und Männern in Berlin es genauso geht, weiß niemand. Denn die, die am dringendsten auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, sind gleichzeitig die, die am wenigsten darin geübt sind, ihre Rechte einzufordern. Oft kennen sie sie nicht einmal. Alte Frauen, deren Rente nach einem arbeitsamen Leben nicht einmal reicht, Lebensmittel zu bezahlen, und die man oft genug in Mülleimern wühlen sieht. Behinderte, die kaum ihr Haus verlassen können. Alleinstehende Mütter, die genug damit zu tun haben, sich um ihre Kinder zu kümmern. Obdachlose, Drogenabhängige, Rentner. Sie beschweren sich nicht beim Stadtrat und schreiben keine wütenden Leserbriefe. Sie sind nicht geübt im Formulieren von Anträgen und dem Ausfüllen von Formblättern.

Wer auf das Amt geht, muß genau wissen, was er will. Das Recht auf Staatsknete muß peinlichst genau nachgewiesen werden — so werden öffentliche Gelder gespart. Doch es geht nicht an, daß nur Hobbyanwälte oder Menschen mit kompetenter Beratung das erhalten, was ihnen zusteht. Wer weiß, daß es Beratungsstellen gibt und wo sie sind? Wie viele wissen nicht von ihrem Anspruch auf staatliche Unterstützung? Wer geht auf das Amt, wenn er die Antwort im voraus ahnt? »Das tut mir leid, das müssen Sie schriftlich bei Herrn Sowieso einreichen.« Die Ämter dürfen sich nicht länger vor allem als Ablehnungsinstanz begreifen, sondern als helfende Hand. Was tun die Behörden, damit das, was sie von oben herab aufgrund diverser Berechnungsgrundlagen beschließen, auch ganz unten ankommt? Diese Frage muß dieser Sozialstaat sich gefallen lassen. Jeannette Goddar