Wegen Geldnot von der Brücke gestürzt

■ Körperbehinderte Kreuzbergerin soll von 114 Mark im Monat leben Jetzt liegt sie mit einem Nervenzusammenbruch im Krankenhaus

Kreuzberg. Vermutlich aus Verzweiflung über ihre finanzielle Misere ist eine junge Kreuzbergerin vor einigen Tagen von einer Brücke in den Landwehrkanal gesprungen. Passanten zerrten die Frau aus dem Wasser. Jetzt liegt die Sechsundzwanzigjährige im Urban-Krankenhaus. Nervenzusammenbruch. Warum? Klara L. lebt seit einem halben Jahr von 114 Mark im Monat — nach Abzug der laufenden Kosten. Auf ihrem Schreibtisch stapeln sich die Mahnungen. Erzählt hat sie von ihren finanziellen Sorgen niemandem. Nur zufällig bekam Robert W., der für Klara L. den Haushalt macht, jetzt ihre Kontoauszüge in die Hand. Die erklären vieles.

Klara L. ist Sozialhilfeempfängerin und körperbehindert. Vor fünf Jahren hat sie sich bei einem Unfall einen schweren Wirbelsäulenschaden zugezogen. Inzwischen hat sie den Rollstuhl verlassen und läuft auf Krücken. Vor dreieinhalb Jahren kam ihr Sohn Oskar zur Welt. Vater unbekannt. Laut Bundessozialhilfegesetz erhält Klara L. seitdem den Regelsatz der Sozialhilfe von 485 Mark monatlich sowie Wohn- und Kindergeld. Alles in allem 767,32 Mark im Monat. 113 Mark gehen sofort an die Techniker-Krankenkasse. Von den verbleibenden 654 Mark überweist sie 207 Mark an ihren Vermieter und 200 an den Kinderladen. 46 Mark bekommt die Gasag; 32 die Bewag. Von den verbleibenden 114 Mark sollen Klara L. und ihr Sohn essen, trinken, telefonieren.

Um Einkauf, Abwasch und Ordnung in der Wohnung kümmert sich Robert W. Dafür erhält er monatlich 314 Mark. Während der vergangenen Wochen hat er den Haushalt umsonst erledigt. Das Geld hat er Klara L. gegeben, um ihre finanzielle Misere wenigstens etwas zu lindern. Wie schlimm es um sie stand, hat er dennoch nicht gewußt. »Ich bin ihre Hilfe und nicht ihr Finanzberater.« Jetzt bekommt er, zumindest vorübergehend, wieder Geld. Für die Dauer des Krankenhausaufenthaltes übernimmt die Krankenkasse die Kosten für die Betreuung des Kindes.

Prekär wurde die Lage für Klara L., als Oskar in den Kinderladen kam. Den Antrag auf Übernahme der 200 Mark hat das Jugendamt Kreuzberg abgelehnt. »Bemühen Sie sich bitte, ihr Kind kostengünstiger unterzubringen«, heißt es in einem Schreiben und: »ferner ist die Unterbringung Ihres Sohnes nicht erforderlich, es sei denn, Sie wollen eine Arbeit aufnehmen«. Das Bezirksamt übernehme »laut Rechtsprechung« lediglich den Regelsatz staatlicher Kitas von 50 Mark monatlich. Dort beträgt die Wartezeit eineinhalb Jahre.

»Daß jemand so wenig Geld zur Verfügung hat, darf eigentlich nicht sein«, findet auch Ingeborg Junge- Reyer, Sozialstadträtin von Kreuzberg. Eine Begründung könne sie ohne genaue Kenntnis des Einzelfalls aber nicht geben. Möglicherweise habe auch der Sohn Anspruch auf Sozialhilfe, da der Vater unbekannt, also nicht unterhaltspflichtig sei. Wie viele Menschen dennoch am unteren Rand des Existenzminimums leben, weiß sie nicht. »Aber die meisten wenden sich sofort an Sozialdienste oder Beratungsstellen, wenn sie von ihrem Geld nicht leben können.« Aber eben nicht alle. jgo