KOMMENTARE
: Banalität des Bösen

■ Zum Fall des brandenburgischen Alterspräsidenten Gustav Just

Die Öffnung der Stasi-, Partei- und Kirchenarchive bringt es ans Licht: Ein Fall löst den nächsten ab, eine Schuld die nächste Unschuldserklärung, eine Rechtfertigung den nächsten Skandal. Wer meint, das „Wühlen im Dreck“ ('Wochenpost‘) deutscher Gechichte mit feineren Instrumenten, gar einer biologisch-dynamischen Abdeckplane unterbinden zu können, unterschätzt ebenso die Dynamik einer halbwegs offenen Gesellschaft wie das Ausmaß der historischen Giftmülldeponie. Der „Fall Just“ zeigt gerade, daß die aktuelle Stasi-Diskussion weder den Blick auf die Gegenwart trübt noch etwa den Nationalsozialismus und Auschwitz in den Hintergrund rückt. Im Gegenteil. Die deutsche Geschichte dieses Jahrhunderts — von der sozialdemokratischen Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 bis zu Erich Honeckers Flucht in die chilenische Botschaft in Moskau — wird nun erst recht in ihren komplexen Zusammenhängen deutlich. Immer drängender stellen sich die Fragen nach Moral, Schuld, Recht und Gerechtigkeit: nach dem Verhältnis von individueller Biographie und politischer Kultur.

Seine Beteiligung an der Erschießung von sechs ukrainischen Juden sei „ein alter Hut“, sagte SPD- Mitglied Gustav Just. Im Interview mit dem Südwestfunk 3 fügte er gestern unverdrossen hinzu, da die Stasi ihn im Jahre 1957 auch in dieser Angelegenheit wochenenlang verhört habe, ohne ihn deswegen zu belangen, entbehrten heutige Beschuldigungen jeder vernünftigen Grundlage: Stasi-Persilschein erster Klassse. Wie nach 1945, als er von der Nazi-Wehrmacht zur SED wechselte, soll auch die Verurteilung zu vier Jahren Haft wegen staatsfeindlicher Tätigkeit durch die DDR-Justiz eine persönliche Schuld löschen helfen oder verjähren lassen, die unter anderen Umständen zur Mordanklage hätte führen können.

Im Osten wie im Westen Deutschlands schlüpften Nazis und Kriegsverbrecher unter die Fittiche neuer Parteien und alter Institutionen. Im Westen sorgten 1968 die Söhne und Töchter der Kriegsgeneration wenigstens für moralischen Aufruhr und eine Debatte, die bis zum heutigen Tag anhält, während im Osten der stalinistische Antifaschismus alle Wunden heilen sollte.

Gewiß, historische Gerechtigkeit gibt es nur für den glücklichen Zufall, und die Rechtssprechung hat ihr eigenes Gesetz. Doch wenn die „Banalität des Bösen“ (Hannah Arendt) sich nicht zum „alten Hut“ entwickeln soll, ist Bohren und Nachfragen erste Bürgerpflicht. Rücktritte reichen da nicht. Die kumpaneihafte Reaktion der brandenburgischen SPD, aber auch die verbreitete Neigung, Enthüllungen als „schmutziges Geschäft“ und Kritik als „Intellektuellenhetze“ zu diffamieren, hinter öffentlichen Vorwürfen stets „gesteuerte Kampagnen“ zu vermuten, belegt die Notwendigkeit einer immer wieder neu inspirierten öffentlichen Diskussion über das Verhältnis von Moral umd politischem Handeln. Nur so läßt sich auch die Gegenwart bewältigen. Reinhard Mohr