ESSAY
: Was ist Amerika?

■ Zur Lage der USA im Wahl- und Kolumbusjahr

Eigentlich müßte es Amerika bestens gehen. Der Kalte Krieg ist gewonnen, Rüstungsausgaben können gekürzt, Geld für Infrastruktur, Arbeitsbeschaffung, Schulwesen und soziale Programme kann ausgegeben werden. Doch Amerika steckt in einer tiefen Krise. Die Friedensdividende ist schon verpfändet, das Land wird von Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, privater und öffentlicher Verarmung, einer wirtschaftlichen Strukturkrise, vor allem aber von einer tiefen inneren Unsicherheit geplagt. Was nur ist aus Amerika geworden?

Die Krankheit, durch die Anstrengungen des Kalten Kriegs und der Systemkonkurrenz unterdrückt, geht auf die Anfänge der Bildung der Nation zurück und hat etwas mit Amerikas Identität zu tun. Amerika sah sich — und die Welt wiederum sah Amerika — im wesentlichen immer als eine europäische Nation. Der vielbeschworene Schmelztiegel verband die größte Völkerwanderung der Geschichte zu einer eigenartigen und einzigartigen Legierung, die das spezifisch Amerikanische ausmachte. Was das allerdings ausmacht, ist schwer zu beschreiben. Unübersehbar aber ist die Dominanz der europäischen Anteile, wozu außer der ethnischen Zusammensetzung auch Kulturtraditionen und bestimmte Werte wie Demokratie, Individualismus und protestantische Arbeitsethik gehör(t)en. Amerika war im großen und ganzen eine Nation von WASPs, von weißen angelsächsischen Protestanten, und war auf Europa ausgerichtet, was man in zwei Weltkriegen bewies. Der Kalte Krieg tat ein übriges, den Charakter der USA als nordatlantische Nation zu bestärken. Amerika, das war Europas Gegenküste und Europas Projektion auf einen anderen Erdteil.

Die Demographie geht weg von Europa

Nun ist der Kalte Krieg zuende. Zugleich wird Amerikas europäische Ausrichtung obsolet. Denn längst schon entspricht sie nicht mehr der demographischen Umwälzung, die seit langem in Gang ist. Ende des 19.Jahrhunderts begann der Zustrom von Einwanderern aus Süd- und Osteuropa sowie von Juden aus dem Osten, den angelsächsischen Charakter Amerikas zu verändern. Antisemitismus und Antikatholizismus waren die prompte Reaktion. Juden, Iren, Polen und Italiener gehörten zur untersten Schicht der Einwanderer, die in den großen Städten die dreckigsten Arbeiten verrichten mußten. Die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs machten dann aber eine Aufhebung der Zuwanderungsbeschränkungen für Juden zwingend. Noch eine ganze Weile hatte der Antisemitismus eine Bastion im Außenministerium, konnte aber nicht verhindern, daß das Judentum zu einem kulturellen und politischen Faktor wurde. Im gleichen Zuge emanzipierten sich katholische Iren und Italiener. Sie stellten die Bürgermeister und den Gouverneur New Yorks und schließlich mit Kennedy den Präsidenten des Landes. Die antisemitischen Ausfälle eines Pat Buchanan aber und die dummen Griechenwitze, mit denen vor vier Jahren Michael Dukakis und heute der demokratische Kandidat Paul Tsongas — „der Grieche aus Massachusetts“ — bedacht werden, sind späte Reflexe der WASPs auf das Schwinden ihrer Vormachtstellung.

Die Schwarzen haben ihre Pflicht getan

Im Bündnis mit dem liberalen Judentum griff die Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre diese Vorrangstellung der Weißen an. Das Wahlrecht der Schwarzen veränderte den politischen Charakter ganzer Landstriche. Daß der Antisemitismus heute in der schwarzen Bevölkerung eine neue Basis findet, hat damit zu tun, daß die Emanzipation des nichtweißen Amerikas die Väter zu fressen beginnt.

Nachdem Einwanderer asiatischer Herkunft lange nicht amerikanische Staatsbürger werden konnten, begünstigten in den siebziger Jahren die Einwanderungsgesetze deren Einwanderung. Im Gefolge des Nord-Süd-Gefälles und der Bürgerkriege in Mittelamerika nahm gleichzeitig der Zustrom der hispanischen Einwanderer sprunghaft zu. Heute stellen die Hispanics und die Asiaten die am schnellsten wachsenden Bevölkerungsgruppen dar. In ganzen Regionen hat das Spanische das Englische als wichtigste Verkehrssprache verdrängt. Und so wie die Schwarzen sich gegen die Juden wenden, so beginnen die Hispanics und Asiaten die Schwarzen zu verdrängen. Es ist kein Zufall, daß Jesse Jackson nicht mehr kandidiert. Schwarz hat aufgehört, die dominante Farbe im Regenbogen zu sein. So wie erst die Juden, scheinen nun die Schwarzen ihre Pflicht getan zu haben. Sie können gehen und werden einer ganz neuen ethnischen Ausrichtung Amerikas Platz machen müssen.

Entwicklungen lassen sich häufig am besten an den bizarren letzten Zuckungen jener Verhältnisse ablesen, die im Untergang begriffen sind. Der Erfolg solch rechter Außenseiter wie Pat Buchanan in New Hampshire und David Duke in Louisiana sind (auch) letztes Aufbäumen der WASPs gegen die unaufhaltsamen Verluste weißer Dominanz. Dasselbe gilt für die alljährlich in irgendeinem Bundesstaat zur Abstimmung gestellte Festschreibung der englischen Sprache als Amtssprache Amerikas. Jedesmal gewinnen die Anglos das Referendum, und jedes Jahr müssen gleichwohl mehr und mehr Stadtverwaltungen ihre Formulare auf Englisch und Spanisch drucken. Das zur Zeit in Amerikas so beliebte „japan bashing“ [auf die Japaner generell rhetorisch einzuhauen, d. Red.] hat nicht nur mit der Konkurrenz der japanischen Industrie und dem Darniederliegen der amerikanischen zu tun, sondern ist Ausdruck eines alle Asiaten betreffenden Hasses und ein letztes Aufwallen der europäischen Suprematie gegen den immer stärker werdenden asiatischen Anteil an der Bevölkerung.

Parallel zur demographischen Infragestellung der alten amerikanischen Identität verlief und verläuft eine politische und moralische Idenitätskrise. Am deutlichsten brach sie schon am Vietnamkrieg auf. Erstmals in der Geschichte der Nation mußten sich Tausende die Frage stellen, ob es moralischer sei, dem Ruf ihres Landes zu den Waffen oder dem des Gewissens zu folgen. Die Frage bricht in den Auseinandersetzungen um die demokratischen Präsidentenbewerber Bob Kerry und Bill Clinton wieder auf. Dekorierter Vietnamkämpfer der eine, Kriegsgegner der andere. Möglicherweise wird Bush die Wahl schon deshalb gewinnen, weil es Amerika leichter fällt, einen Veteranen des Zweiten Weltkriegs als einen Vertreter der Vietnamgeneration zu wählen.

Wenn die Stadt Berkeley ausgerechnet im Kolumbus-Jahr den Columbus Day durch den „Tag der Indigenen Völker“ ersetzt, so ist das nur das herausragendste Anzeichen für ein Unbehagen am traditionellen Selbstverständnis Amerikas. Dieses Unbehagen findet seit Jahren schon Widerhall in den erbittert geführten Auseinandersetzungen um die Lehrpläne von Schulen und Universitäten: Sollen amerikanische Schüler eine auf europäischer Tradition fußende Bildung erhalten oder eine Weltbildung, sollen sie Shakespeare oder Sitting Bull lesen?

Tiefe moralische und politische Krise

Amerika ist im Begriff, seinen demographischen Charakter grundlegend zu verändern. Die Präsidentschaftswahlen in diesem Jahr werden dies deutlicher machen als vorherige, denn die Wahlkreise sind neu gezogen worden, vielerorts entstanden ethnisch homogene Bezirke. Und mit seiner alten ethnischen Identität ist Amerika auch im Begriff, seine traditionelle Rolle zu verlieren. Ist doch die ihm nach dem Zweiten Weltkrieg zugefallene Aufgabe erfüllt. Eine neue Herausforderung hat das Land noch nicht gefunden. So wie Rambo im Kino jenen Sieg erringt, der Amerika auf den Schlachtfeldern Vietnams versagt blieb, so war der kurze Golfkrieg ein Versuch der USA, die Welt noch einmal nach altem Muster in Szene zu setzen. Was aber ist Amerika, wenn es nicht mehr weiß und europäisch und nicht mehr Führungsmacht der Freien Welt im Widerstand gegen den aggressiven Expansionismus von Faschismus oder Kommunismus ist? Die gegenwärtige Krise ist zuallererst Ausdruck der Schwierigkeit, diese Frage zu beantworten. Reed Stillwater