Chinas Außenminister heute zu Besuch in Bonn
: Normalisierunggeht auch ohneMenschenrechte

■ Aus Anlaß des ersten Besuchs eines chinesischen Regierungsmitglieds nach dem Tiananmen-Massaker von 1989 erklärte in Bonn amnesty international...

Normalisierung geht auch ohne Menschenrechte Aus Anlaß des ersten Besuchs eines chinesischen Regierungsmitglieds nach dem Tiananmen-Massaker von 1989 erklärte in Bonn amnesty international, die Menschenrechtslage sei auch 1992 katastrophal.

Für Li Pengs Mörderclique darf es keine deutsche Hilfen geben.“ „Qian Qichen ist Außenminister eines Unrechtsstaates, den wir nicht mit offenen Armen empfangen wollen.“ Einem Aufruf der Jungen Union folgend, demonstrierten unter diesen Slogans am Montag vor der chinesischen Botschaft in Bonn der stellvertretende Vorsitzende Heiner Geißler und zahlreiche Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gegen den Besuch eines Mannes, den der CDU-Parteivorsitzende, Kanzler Helmut Kohl, heute nachmittag mit allen Ehren in Bonn empfangen wird.

Zum ersten Mal nach der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Juni 1989 kommt der Außenminister Chinas in die Bundesrepublik. Sein Besuchsprogramm ist randvoll. So voll, daß die Bitte von amnesty international nach einem Gespräch mit Qian über die Menschrechtssituation in seinem Land von der Bonner Botschaft Pekings mit dieser Begründung telefonisch abgelehnt wurde. Immerhin — bislang hatte die chinesische Botschaft es noch nie für nötig gehalten, auf Gesprächsbitten von amnesty überhaupt zu reagieren. Um sicherzustellen, daß das Thema Menschenrechte bei der Bonner Visite Qians dennoch in möglichst konkreter Form zur Sprache kommt und vielleicht sogar zumindest für einige wenige Menschen Fortschritte erreicht werden, schrieb ai Briefe an die sieben Bonner Gesprächspartner des chinesischen Außenministers mit der Bitte, sich für die Freilassung jeweils eines konkret benannten politischen Gefangenen einzusetzen. Bundeskanzler Kohl soll sich bei seinem Treffen heute zwischen 17 und 19 Uhr im Bonner Kanzleramt für Wang Xizhe verwenden, einen im April 1981 verhafteten Gefangenen der ersten Demokratiebewegung.

ai-Briefe an die Bonner Gesprächspartner Qians

Mit einer Mahnwache zu gleicher Stunde auf dem zentralen Bonner Münsterplatz will ai seiner Bitte an den Kanzler Nachdruck verleihen. Das scheint auch notwendig. Denn der am 4. März abgesandte ai-Brief an Kohl war nach Angaben eines Regierungssprechers bis gestern nachmittag nicht beim Kanzler eingetroffen. Ob der gestern „nicht erreichbare“ CSU-Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Spranger, das ai-Schreiben erhalten hat mit der Bitte, sich für den politischen Gefangenen aus der ersten Demokratiebewegung, Cai Decheng, einzusetzen, wußte sein Mitarbeiter gestern nicht zu sagen. Spranger hat sich in jüngster Zeit deutlich für die Einhaltung der Menschenrechte als zentrales Kriterium für die Vergabe von Entwicklungshilfemitteln und Wirtschaftshilfe ausgesprochen.

Den ai-Brief vorliegen hat der SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Hans-Ulrich Klose, der Qian Mittwoch morgen im Gästehaus der Bundesregierung auf dem Petersberg sprechen wird. Klose sagte zu, dabei die Freilassung von Zhai Weimin zu fordern, prominenter Aktivist der 1989 niedergeschlagenen zweiten Demokratiebewegung. Kloses CDU/CSU-Amtskollege Wolfgang Schäuble wurde von der zuständigen Fraktionsarbeitsgruppe empfohlen, sich — wie von ai erbeten — für den inhaftierten buddhistischen Mönch Ngawang Qeser einzusetzen. Der FDP-Vorsitzende Graf Lambsdorff will nach Auskunft einer Sprecherin zu der geplanten Begegnung mit Qian morgen nachmittag nur antreten, wenn die chinesische Seite zuvor zusagt, daß dabei auch über Menschenrechtsfragen gesprochen werden kann. Den Finanzminister Theo Waigel bat amnesty um Einsatz für den katholischen Priester Joseph Jin Dechen, und Außenminister Hans- Dietrich Genscher soll sich um den Aktivisten der zweiten Demokratiebewegung vom Juni 1989, Yu Dongyue, kümmern. Ob Genscher dies tun wird, ließ sich gestern nicht klären. Selbst wenn alle Bonner Gesprächspartner Qians dem ai-Anliegen folgen sollten und damit vielleicht sogar die Freilassung der sieben politischen Gefangenen erreicht wird, es wäre nur ein Tropfen auf den heißen Stein: „An der ernsten Menchenrechtslage in der Volksrepublik China“, so ai-Generalsekretär Volkmar Deile gestern in Bonn, „hat sich seit dem Massaker vom Juni 1989 in der Substanz nichts geändert“. Der aktuelle Erkenntnisstand von ai: Seit dem Massaker wurden mehrere hundert Aktive aus der Demokratiebewegung zu zum Teil langjährigen Haftstrafen verurteilt; Menschen, die lediglich ihr Recht auf Meinungs- oder Versammlungsfreiheit wahrgenommen haben, erhielten Urteile zwischen drei und 13 Jahren. Der Vorwurf lautete in der Regel auf „konterrevolutionäre Agitation und Propaganda“. Sehr hoch ist die Zahl der Inhaftierten ohne Anklage und Verfahren.

Ebenfalls seit 1989 wurden über 100 katholische Bischöfe, Priester und Laien verhaftet und in Umerziehungslager gesteckt wegen ihrer Weigerung, der „Patriotischen Katholischen Vereinigung“ beizutreten und damit den Bruch mit der katholischen Weltkirche zu vollziehen.

Verhaftungen gehen auch heute weiter

Trotz der Aufhebung des Ausnahmezustandes über Lhasa gibt es auch in Tibet keine Verbesserung der Menschenrechtssituation. Amnesty international kann die Fälle von 1.025 verhafteten Mitgliedern der Unabhängigkeitsbewegung belegen und geht davon aus, daß tatsächlich „mehrere tausend verhaftet wurden“. Die Gerichtsverfahren widersprechen allen internationalen Grundsätzen und Standards; zumeist werden die Urteile bereits vor Beginn des Verfahrens festgelegt. Und die Verhaftungen gehen weiter. So wurden zum Beispiel am 27.Dezember 1991 sechs Studenten festgenommen — ihr Verbrechen: Bei der Beerdigung ihres an Krebs gestorbenen Kommilitonen — der wegen seiner Teilnahme an der Demokratiebewegung zuvor 15 Monate im Gefängnis verbracht hatte — legten sie vier rote und sechs schwarze Rosen auf das Grab und erinnerten damit an den 4.Juni 1989, das Datum des Massakers vom „Platz des Himmlischen Friedens“.

Im Rahmen der sogenannten Administrativhaft wurden und werden „wahrscheinlich Hunderttausende“ aus ganz unterschiedlichen Gründen in Programme zur „Umerziehung durch Arbeit“ gesteckt. Folter und Mißhandlungen von Häftlingen zwecks Disziplinierung und Erpressung von Geständnissen sind weiterhin an der Tagesordnung. Trotz Chinas Unterschrift unter die UNO-Folterkonvention sind Foltern und Mißhandlungen in China weiter an der Tagesordnung. Allein für 1991 weist ai für China 1.646 Todesurteile und 1.051 Vollstreckungen nach. Nach vorliegenden Berichten wurden jedoch möglicherweise bis zu 20.000 hingerichtet, die höchste Zahl seit 1983. Andreas Zumach, Bonn