Tour d'Europe

■ Ein Immigrant vergleicht

Von Europa kennt Amir al Birba aus Alexandrien „den größten Teil schon ziemlich gut“, einschließlich „einiger Knäste“, in denen es „meist gemütlicher war als in den Behausungen, in die wir sonst gezwungen waren“. Er hat unter den Brücken von Paris, aber auch in den Docks von Marseille genächtigt („böse Polizei, aber noch bösere Matrosen“), war in verlassenen Hütten des Baskenlandes untergebracht („solidarische Menschen, solange man nicht über Politik spricht“), hatte in Amsterdam in Notunterkünften gewohnt („verlangen eine Sauberkeit, die man bei vierzehn Stunden Arbeit pro Tag nicht bringen kann“) und war in Frankfurt und Hamburg in Wohngemeinschaften untergeschlupft („bei denen immer nur Politik, und wenn nicht, werfen sie dich raus“). Doch so richtig auf die Beine kam er erst in Italien: „Da hab ich gelernt, was die Italiener ,furbizia‘ nennen, Schlitzohrigkeit — dagegen waren unsere Methoden, sich durchzuschlagen, richtig lächerlich.“

Zunächst hatte er in Latina südlich von Rom Unterkunft gefunden, nachdem er zusammen mit dreitausend anderen Immigranten aus der jahrelang besetzten Keksfabrik Pantanelle wegexpediert worden war. Dann wurde auch das Flüchtlingsheim Latina weitgehend aufgelöst, da hat er wie viele andere bei San Felice Circeo ein Plastikhaus gebaut — Holzpfähle in eine ungenutzte Wiese gerammt, darüber milchige Folie von den nahen Gewächshäusern, „wenn richtig festgezogen, hält es auch Sturm aus“. Dennoch: „Drin schwitzte man wie ein gestochener Eber.“ Also suchten sie nach verlassenen Bauernhäusern aus der Zeit der Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe. Sie fanden eines, etwa dreißig Immigranten zogen ein — „dann kam der Eigentümer und drohte mit der Polizei“. Amir machte sich, als letzter, gerade fertig zum Abhauen, da lud ein Lastwagen hinter dem Haus eine „Riesenmenge Baumaterialien“ ab. Amir verstand und sofort kam ihm die „furbizia“: „Normalerweise bauen die alle schwarz. Wenn man der Polizei einen Tip gibt, bevor die mit dem Dach fertig sind, müssen sie alles wieder abreißen.“ Also ging Amir mit einigen Freunden zum Hauseigentümer und machte ihn darauf aufmerksam, daß „wir jetzt nebenan mal warten“. Der Hausherr verstand — zwei Wochen später hatten die Immigranten sogar einen Mietvertrag; für das alte Haus, versteht sich, und mit der Auflage, da einiges zu reparieren. „Vermutlich sind wir hier so ziemlich die einzigen, die keine Angst mehr vor Razzien haben.“

Vielleicht sind sie nicht mehr lange alleine: Bauern, die die Sache mitgekriegt haben, überlegen derlei Vermietung auch für ihre alten „Casolari“. Die Behörden haben nichts dagegen — „statt daß wir diese unseligen Plastikfolienhäuser kaputtmachen müssen“, sagt der Polizeichef von San Felice, „haben die Leute einen Wohnsitz und auch eine gewisse Beziehung zur Umgebung“.

Amir hat inzwischen draufgesattelt: statt wie seine Immigranten-Freunde jeden Morgen an der Via Pontina zu stehen und auf Bauern zu warten, die sie anheuern und auf ihre Felder bringen, hat er im Haus eine Vermittlung eingerichtet. Dieses System hat freilich einen Haken — Amir hat keine Lizenz für Arbeitsvermittlung. Doch wenn es hart auf hart kommt, wird er eben seine „furbizia“ aktivieren. Werner Raith