Artisten in der Zirkuskuppel

Georgette Dee und Terry Truck vor großem Haus  ■ Von Klaudia Brunst

Braungebrannte Schnauzbartgesichter tänzeln kokett von einem Budapester auf den andern, brechen Handgelenke, ergreifen Colliers und amüsieren sich bereits prächtig. Damen, die keine sind, stöckeln vorüber, grüßen hier, lächeln dort — jetzt nur kein falscher Blick in die richtige Richtung! — und installieren sich umständlich, aber grazil auf den vorderen Plätzen, während das niedere Volk lauttönend und frohgemut die Empore erklimmt.

Das Licht wird gelöscht, die Ränge, immer etwas übermütig, applaudieren begeistert, und unten im Parkett geht ein Raunen der Vorfreude durch die edel parfümierten Reihen. Dann endlich kommen die beiden auf die Bühne, Georgette Dee und ihr Herr Terry Truck. Applaus brandet auf, Blicke werden gewechselt. Arm in Arm schreiten die beiden auf die riesige Bühne — jetzt nur kein falscher Blick in die richtige Richtung! Er im Spenser, sie im kleinen Schwarzen halten sich aneinander fest, als gelte es, sich gegenseitig Mut zu machen — tief Luft holen, weit ausschreiten, loslegen.

„Ich, hmmmm — “, oh, ihre Stimme ist immer noch so wunderbar, „hab' schon sieben Männer...“ sagt die Dee, von der wir alle wissen, daß sie so gerne flunkert, und hebt zu singen an. „Ich bin die hysterischste Ziege von ganz Berlin“, kokettiert es aus der bulligen Verstärkeranlage, und der Herr Terry, nicht eben unbeeindruckt von der Größe des Raumes, greift tapfer in die schwarzen und weißen Tasten seines kräftig verstärkten Pianofortes. So könnte es jetzt losgehen, mit einem dieser tödlichen Abende, an denen das Gespann Dee und Truck Truck und Dee singt, ein bißchen Holländer und Weill dazwischen, zwei Flaschen Burgunder, drei Schachteln West light, und diese wunderbare Leichtigkeit des Weins würde uns hineinziehen in die wirren Geschichten, kleinen Anekdoten und mannhaften Zoten der Dame Dee.

Weil das Leben allzuoft in Schleifen verläuft, und das der Diseuse insbesondere, weil Georgette auf der großen Bühne des Berliner Schiller Theaters spielt, das Haus bis auf den letzten Platz ausverkauft ist und sie das alles weiß, kommt es dann doch ein wenig anders als von den Budapestern und Schnauzbärten erwartet. Die hysterischste Ziege von ganz Berlin, sie vergißt ihren Text — Oh Gott! —, bricht ab, setzt an, Herr Terry rutscht nervös auf seinem Pianohocker hin und her — ein unwirscher Blick, und dann spielt und spielt und spielt er, und Frau Dee singt und singt und sinkt. Hach, solche Angst habe sie, daß gleich einer auf den Drehbühnenknopf drücken werde. Alles verdreht den Hals plötzlich in Richtung Bühnenausgang. Georgette lacht, wie um sich selbst zu beruhigen, ein kleines großes Lachen. Aber es drückt niemand rein gar nichts, und weder die Bühne noch die Nervosität weichen einen Millimeter beiseite. So recht will dem Duo heute musikalisch nichts gelingen, auch wenn der Herr Truck noch so heftig an seinem Hocker herumschraubt. Selbst die eine Nacht voller Seligkeit, in der Frau Dee gewohnheitsmäßig mit dem Mikrophongalgen pumpschwengelt, bleibt ein einziges Stolpern und Hasten. Die Artisten in der Zirkuskuppel — ratlos? Die erste Flasche Burgunder ist schon nach einer Viertelstunde am Ende, Georgette hat gerade eine Runde durch den hinteren Bühnenraum gedreht: „Was die Leute wohl an mir finden?“ plappert es von hinten. „Ich wollte eigentlich nie ein Star werden — man hat uns gebeten (!), hier aufzutreten!“ sagt sie — kokettier, kokettier! —, und wundert sich über ihren seltsamen „Diskant in der Stimme“. Köpft den zweiten Burgunder, nimmt einen großen Schluck und läuft nun endlich zu ihrer wahren Plaudergröße auf. An den schwierigen Stellen hält das wissende Publikum den Atem an, Hände verschweißen, Nacken verspannen. Dieser Abend, er ist unerwartet ein Drahtseilakt geworden. Atemlos lauschen wir den heute so schrecklich schwierigen Liedern, saugen das Wunderbare in uns auf, verzeihen die Patzer, berauschen uns, wo immer es möglich ist. Endlich die rettende Pause. Ganz unschlüssig strömt man ins Foyer — jetzt nur keinen richtigen Blick in die falsche Richtung! —, die Schnauzbärte besprechen fachkundig die Lage. Eine winzige Hoffnung besteht ja noch: „Wenn ihr gleich endlich alles scheißegal ist, dann wird alles gut“, fachsimpeln die Fans in den besseren Schuhen und bleiben.

Als sie dann zum zweiten Mal an diesem Abend hereinrauscht, nun in ihrer kokett verknoteten Lieblingsrobe, hüftschwingend, Schampus schwenkend, da schreitet sie wirklich ganz anders aus. „So 'ne große Bühne!“ rast Georgette, wie wir sie lieben, von Ecke zu Ecke, verschwindet hinter dem Backstage- Vorhang. „Ich glaub', hier zieh' ich ein!“ Sie nimmt ganz neu Maß und gibt uns ihr vielleicht schwierigstes (und frivolstes) Lied. Dann noch ein tiefer Schluck aus der Pulle — fertig! lacht die Diseuse, die fortan nie mehr ein Kleinkunststar, sondern ab jetzt ein echter Glanz sein wird. Nun geht es round and round and round... Das Glücksschwein singt die nun Glückliche halsbrecherisch auf ihrem Stühlchen, dann ein bißchen Carmen und etwas Holländer. Im Taumel der Gefühle lösen sich — husch, husch! — alle Knoten, der aus dem Haar, der aus dem Kleid, und jener, der Herrn Truck so plagte, gleich mit. „Stellen Sie sich mal vor, Sie befänden sich auf einem Kreuzfahrtschiff...“, schenkt sie uns ihre schönste Fabulierstimme, und dann säuft sie ab, die Dee, in ihren bekannt großen Schwüngen, und der Herr Truck spielt seinen Chopin. „Wenn Sie das jeden Abend spielen, wenn das Schiff untergeht — ich bin dabei!“ säuselt die Kumpanin ihm ins Pianistenohr, aber ab jetzt geht hier rein gar nichts mehr unter. Nein, immer nur rauf und runter, auf und nieder sausen unsere Gefühle, und als das Schlaflied den Abend endgültig beenden soll, will es keiner so recht wahrhaben, die beiden auf der Bühne vielleicht am allerwenigsten. Fünf Zugaben, sieben Blumensträuße, elf Vorhänge. Das ist die Bilanz dieses akrobatischen Drahtseilaktes, der noch soeben vor Mitternacht sein Ende findet. Es ist 23.47 Uhr, soeben wurde der Stadt ein Star geboren. Wahrhaftig, eine anstrengende Geburt. Aber schööön!