KOMMENTARE
: Von Luftschlössern und Lügen

■ Zu den beschäftigungspolitischen Perspektiven in Ostdeutschland

Als die Mauer noch stand, gab es Arbeit satt. Rund 9,5 Millionen der ehemals 16,25 Millionen StaatsbürgerInnen der DDR gingen einer bezahlten Beschäftigung nach. Gemessen an der Zahl der Erwerbsfähigen lag die Beschäftigungsquote bei über 92 %. In keinem kapitalistischen Land der Welt findet sich eine vergleichbare Quote. Der hochproduktive westdeutsche Produktions- und Dienstleistungsapparat bietet nicht einmal 70 % der Erwerbsfähigen einen Job. Angesichts dieser Zahlen, die jahrzehntelange realwirtschaftliche Prozesse dokumentieren, liegen die beschäftigungspolitischen Perspektiven für die fünf neuen Länder eindeutig fest: Auf Dauer werden im Osten Deutschlands im günstigsten Fall 6,5 Millionen Menschen einen Job finden. Gemessen an den DDR-Verhältnissen würde das einer Arbeitslosigkeit von 35 % entsprechen. In den kapitalistischen Ländern wird diese Quote mehr oder weniger mit dem Zustand der Vollbeschäftigung beschrieben.

Westliche Beschäftigungsverhältnisse setzen aber westliche Produktivitätsverhältnisse voraus. Davon ist die ehemalige DDR-Wirtschaft noch meilenweit entfernt. Die hohen Produktivitätsvorteile im Westen sorgen dafür, daß die meisten Ostbetriebe — trotz geringerer Löhne — mit den westlichen Konkurrenten nicht mithalten können. Überließe man sie ungeschützt dem Markt, bliebe nicht viel übrig — jedenfalls weit weniger als die oben angenommen 6,5 Millionen Arbeitsplätze. Aus diesem realwirtschaftlichen Zusammenhang gibt es kein Entrinnen. Wer den Leuten eine baldige Trendwende auf dem Arbeitsmarkt suggeriert, lügt. Wer solches glaubt, betrügt sich selbst.

Von der konservativen Lüge in Gestalt des Herrn Kohl — niemandem wird es durch die Vereinigung schlechter gehen — bis zu den gewerkschaftlichen Luftschlössern ist der Weg jedoch relativ kurz. Wer, wie manche Gewerkschafter, so tut, als könne man durch staatliche Beteiligungen auf Dauer mehr an Arbeitsplätzen retten als durch Privatisierungen, führt die Menschen ebenfalls auf eine falsche Fährte. Nicht konkurrenzfähige Arbeitsplätze sind auf Dauer nicht zu halten.

Realistisch waren die an die Verbundlösung und staatliche Beteiligung im Werftenbereich geknüpften Erwartungen deshalb nie. Die jetzt gefundene Lösung stellt einen Kompromiß zwischen den Marktradikalen und den Staatsgläubigen dar. Dieser Weg wird schon teuer genug. Für den Werftenbereich ist er finanzierbar, für sämtliche Krisenbranchen der Ex-DDR dagegen nicht. Versuchte man es, die ganze Gesellschaft müßte daran ersticken. Walter Jakobs