DEBATTE
: Der algerische Knoten

■ Auf diktatorischem Weg wurde in Algerien verhindert, daß auf demokratischem Weg möglicherweise eine Diktatur entsteht

Was ist ein demokratischer Prozeß? Muß man es einfach hinnehmen, daß eine totalitäre Partei erklärt, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, sie werde nach ihrer Machtübernahme alle Parteien verbieten, individuelle und gesellschaftliche Freiheiten einschränken und überhaupt den Pluralismus abschaffen? Was ist ein demokratischer Wettbewerb? Läßt er zu, daß politische Parteien ihre Machtansprüche religiös, mit einem kulturellen Erbe oder einer Gruppenidentität legitimieren? Ist er am Ende also bloß ein erbarmungsloser Konkurrenzkampf um die Macht, in dem jedes Mittel erlaubt ist?

Gewisse demokratische Intellektuelle halten den religiösen oder weltlichen Faschismus für eine ganz gewöhnliche ideologische Strömung wie viele andere auch. Eine solche Einstellung abstrahiert völlig von allen Lehren der Geschichte. Sie verschleiert die soziale Zerrüttung und die wirtschaftliche und kulturelle Krise in Algerien — die Umstände also, die überhaupt erst zuließen, daß totalitäre Ideen einen besseren Nährboden fanden als solche der demokratischen Erneuerung. Am Ende trägt sie dazu bei, die terroristischen Praktiken im pluralistischen Wettbewerb zu institutionalisieren.

Weiter kommt aus derselben Ecke das Argument, man hätte den Sieg der Islamisten zulassen müssen. Einen Sieg, der im Zuge der totalen Abdankung des Staates errungen wurde! Man glaubte, zusehen zu müssen, wie die algerische Gesellschaft auf die Errichtung eines theokratischen Staates reagieren würde, der aus ihr ein Labor mit 25 Millionen Versuchstieren gemacht hätte. Vorgesehen waren „wissenschaftliche“ Experimente, die auf der „Theorie der fruchtbaren Regression“ fußen. Dieser „Theorie“ zufolge können Länder aus gesellschaftlichen Rückentwicklungen gestärkt hervorgehen. Diese Vision eines gigantischen Laboratoriums trägt der letztlich totalitären Natur der Islamischen Heilsfront (FIS) Rechnung.

Die westlichen Länder haben auf die Aussetzung des zweiten Wahlgangs teilweise sehr heftig reagiert. Doch die westlichen Demokratien selbst sind auch schrittweise entstanden. Demokratische Kultur hat sich in Etappen durchgesetzt. In Frankreich etwa erhielten die Frauen erst 1947 das Stimmrecht. Warum sahen diese Länder keinen Angriff auf die Demokratie, als der russische Präsident Boris Jelzin entschied, die Wahlen in seinem Land für einige Jahre zu stornieren, um die Situation zu stabilisieren? Präsident Charles De Gaulle, um ein weiteres Beispiel zu nennen, zögerte nicht, die in Baden- Baden stationierten Panzer zu Hilfe zu rufen, als im Mai 1968 sein Land im Chaos zu versinken drohte. Inneres Chaos und Bürgerkrieg sind nun aber genau die Gefahren, vor denen sich Algerien sah.

Die Machtübernahme des Obersten Staatsrates, die Unterbrechung des Wahlgangs und die Ausrufung des Ausnahmezustands werfen unter anderem die Frage nach der Rolle des Militärs in der algerischen Entwicklung auf. Seit die Armee sich gemäß der neuen Verfassung (Februar 1989) aus der Politik zurückgezogen hat, neigt sie dazu, eine regulierende Funktion auf dem Weg in ein demokratisches Algerien zu spielen — vor allem aber versucht sie einen Bürgerkrieg zu verhindern. Die algerische Armee entstand — im Unterschied zu anderen Armeen in den Ländern der Dritten Welt, etwa in Lateinamerika oder zahlreichen Bananenrepubliken — aus einer Befreiungsarmee, die aus dem Volk gebildet wurde und in ihm verankert ist. Ich weise mit besonderer Berechtigung darauf hin, weil ich als Gründer und Mitglied des Algerischen Komitees gegen Folter selbst Repressionen und Folterungen angeprangert habe, die im Namen dieser Armee in der Ära Chadli begangen wurden.

Eine demokratische Kultur entwickelt sich nur schrittweise. In mühsamen kleinen Schritten wappnet sich die Gesellschaft gegen die Manipulationen der Herrschenden; drängt Willkür, autoritären Stil und all die alten Repressionen zurück, bis die demokratische Kultur eine regulierende Kraft der Gesellschaft wird.

Regressive Theokratie versus moderne Demokratie

Hinter den gewalttätigen Begleiterscheinungen des Übergangsprozesses stand in Wahrheit der Kampf zwischen einem regressiven theokratischen Gesellschaftskonzept und einem modernen demokratischen. Letzterem ist es unglücklicherweise nicht gelungen, seine Grundzüge klar darzustellen. Daher ist es als reale Alternative nicht anerkannt worden, was nichts an den Idealen ändert, denen es sich verschrieben hat: den individuellen und kollektiven Grundrechten, der Meinungs- und Redefreiheit, der Kreativität, kurz, der Modernität. Doch weite Teile der Bevölkerung wissen nicht, was sie mit dieser Freiheit anfangen sollen, zumal ihnen für die Inanspruchnahme derselben die materiellen Voraussetzungen fehlen. Die wirtschaftliche Entwicklung der letzten zehn Jahre hat die Lage des Großteils der algerischen Bevölkerung verschlechtert. Die Aussichten, die soziale Lage und die Bildungschancen zu verbessern, sich geistig und materiell stärker entfalten zu können, wurden immer geringer.

60 Prozent der algerischen Bevölkerung sind unter 30 Jahre alt. Es ist eben diese Generation der Jüngeren, die „Massen“ von Benachteiligten, aus denen die FIS die meisten aktiven Anhänger rekrutiert. Unter dem Banner einer Theokratie, deren wahre Inhalte sie weder kennen noch einzuschätzen wissen, wagen sie, ein System anzugreifen, das Menschen an den Rand der Gesellschaft drückt oder ganz zurückweist. Ihren meist gewaltsamen Protest stützen sie auf das islamische Projekt, das sie mit Brüderlichkeit und Vertrauen gleichsetzen. Der alte Traum vom vollkommenen Gemeinwesen. Ein Hoffnungsschimmer durch, wie die Erfahrungen im Iran und Sudan gezeigt haben, ein hoffnungsloses Projekt.

Diese Identitätskrise einer Gesellschaft, besonders ihrer Jugend, macht das Versagen der sogenannten demokratischen Parteien deutlich. Es gelang ihnen nicht, diesen Hoffnungen Rechnung zu tragen, denen ein demokratisches Ideal zugrunde liegt. So haben sich die Parteien quasi verbraucht, bevor sie je zu was nütze waren. Ein weiterer Grund für die schwache soziale Verankerung der demokratischen Parteien liegt in ihrer Unfähigkeit, mit der alten politischen Elite zu brechen. Für viele Menschen war es erschreckend, daß Parteien, deren Gründer oftmals selbst den Repressionen des Systems ausgesetzt waren, sich mit eben dessen Vertretern im Zeichen der Demokratie zusammentaten. Dieses Verhalten hat zu massiven Vorurteilen gegenüber dem demokratischen Konzept geführt, das schließlich mit der herrschenden Macht und dem herrschenden System gleichgesetzt wurde.

Was benötigt Algerien heute? Wie kann es sich mit sich selbst aussöhnen? Das Land muß vor allem mit der alten politischen Elite brechen. Es muß mit einem System brechen, das soziale und kulturelle Ungleichheit verstärkt hat, das Korruption als Mittel der Politik verstand, das Clans und Kasten von politischen und wirtschaftlichen Parasiten Raum ließ. Und diese Gruppen manipulieren weiterhin den Staat, sorgen für gewalttätige Stimmung in der Gesellschaft.

Algerien wird sich mit seiner Geschichte, seiner Kultur, seiner Identität auseinandersetzen müssen — mit allem also, was durch die 30jährige Herrschaft der Einheitspartei verunglimpft wurde. Im Augenblick ist es jedoch am wichtigsten, einen sozialen Kompromiß zu finden, der allen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interessen Rechnung trägt. Nur ein Gesellschaftsvertrag, der sich ernsthaft auf demokratische Regeln beruft, kann einen Bruch mit dem Gedankengut der Einheitsparteien herbeiführen, ob sie nun FLN oder FIS heißen. Smail Hadj Ali

Professor für Publizistik in Algier. Der Text wurde noch vor dem Verbot der FIS verfaßt.Übersetzung: Henrike Thomsen