Spreewälder Gurken vor schwedischen Elchen

■ Über 100.000 Besucher machten sich während der ersten vier Tage der Internationalen Tourismus-Börse auf die Suche nach Urlaubszielen/ Der Andrang bei den Ausstellern aus den fünf neuen Ländern ist ebenso groß wie die Unkenntnis derselben

Charlottenburg. Wieviel Hochglanzpapier braucht man für einen ausgiebigen Urlaub im eigenen Wohnzimmer? Eine (zugegebenermaßen ziemlich schwachsinnige) Frage, die sich einem in diesen Tagen in Berlins Messehallen dennoch immer wieder aufdrängt. Da wird gegriffen und gegrapscht, gesammelt und gehortet, was die Stände an Material hergeben und die Plastiktüten halten. Flugprospekte, Pauschalangebote, Hotelkataloge, Luftballons, Aufkleber, Landkarten. Wer weiß, wozu man es gebrauchen kann. Schließlich sind mehr als 40 Millionen Deutsche im vergangenen Jahr in Urlaub gefahren.

Die Reiselust ist ungebrochen. Über 100.000 Besucher haben an den ersten vier Tagen die Internationale Tourismus-Börse auf dem Berliner Messegelände bevölkert — Fachleute wie Hobbyurlauber. Auseinanderhalten kann man sie leicht. Anstelle von Prospekten tragen die professionellen Reiseexperten Akten unter dem Arm, blicken ständig geschäftig umher und verschwinden regelmäßig in die ihnen vorbehaltenen Verkaufsbereiche der Messe. Dort handeln und verhandeln sie mit wichtiger Miene, immer auf der Suche nach einem guten Deal in der Wachstumsbranche Tourismus. Die Auswahl ist größer als je zuvor. 4.050 Aussteller aus 156 Ländern präsentieren hier ihre Angebote.

Das gemeine Volk tummelt sich derweil auf den zahlreichen Gängen der über 50.000 qm großen Ausstellungsfläche. An den mehr oder weniger liebevoll dekorierten Ständen trifft der Besucher dann genau das, was ihm ohnehin als erstes zu dem Reisegebiet einfällt. Holländische Blumen, australische Koalas, texanische Hüte, schwedische Elche, Bremer Stadtmusikanten und Spreewälder Gurken, nicht zu vergessen die obligatorischen Gummikakteen der südlichen Länder. Klischees erhöhen den Wiedererkennungswert für den tölpeligen Touristen ungemein.

Je lauter der Marktschreier, desto größer ist das Publikum. Paul Breitner quatscht auf der TUI-Bühne, Cowboybraut Jil Morris gospelt vor texanischer Kulisse, der Alm-Öhi zupft auf seiner Zitter. »Soeben ist ein Frachter gestrandet, bei uns sind wieder Prospekte gelandet«, poltert ein Matrose in schönster »Reim dich, oder ich freß dich«-Manier vor dem Stand von Usedom. Das zieht. Die Halbinsel ist schon so gut wie ausgebucht. »Mensch, wie viele Südseeinseln es doch gibt«, »Wo man nicht überall mal hinmüßte...«, oder: »Du Schatz, was ist denn Tuvalu?« fragt und tuschelt es allerorten mehr oder weniger verlegen.

Für Staunen sorgen auch die neuen Bundesländer. Sowenig sich viele Besucher dort auskennen, so groß ist das Interesse. Vor den langen Tresen von Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg staut es sich beinahe. Teilweise liegt das allerdings an den vielen Landkarten, mit denen Wessis herumfuchteln, um sich halbwegs zu orientieren im Neu(reise)land. Prignitz und Uckermark sagen schließlich noch längst nicht jedem was. Auch das »Abenteuer Vorpommern« sowie »Sommer in Rostock« locken, oft zu Preisen, von denen an Sylter Preisklassen gewöhnte Wessis nur träumen können.

Fast neidisch gucken die Bayern auf die neudeutschen Stände. Bei ihnen ist deutlich weniger los. Auch der blau-weiß-gewandete Kapitän der Donauschiffahrt steht ziemlich einsam vor seinem Rettungsring. Mehr Trubel herrscht bei den Reisezielen in Übersee. Thailand, Nepal, Indien, USA und die Karibik. Mit hübschen Dunkelhäutigen unter schattenspendenden Palmen wird der Reiselustige in die südliche Sonne gelockt.

Hinter den thailändischen Verlockungen ist einer der wenigen Kontrapunkte der Tourismusmesse postiert. Unter dem Motto »Menschenrechte — kein Thema für die Tourismusbranche« macht der Zusammenschluß »Tourismus mit Einsicht« mit einer Fotoausstellung auf die Folgen der alljährlichen Massenwanderungen aufmerksam. Dickbäuchige Weiße lassen sich dort gegen Zahlung den Harem eines Häuptlings in Nordkamerun vorführen. Kinder, die noch nicht einmal das Pubertätsalter erreicht haben, bieten sich in Togo als Prostituierte an. Ein ausgemergelter Bettler im Himalaya läßt sich für ein paar Münzen von einer Reisegruppe vor der untergehenden Sonne ablichten. Ein schönes Andenken. Die Besucher sind betroffen. Zehn Meter weiter greifen sie nach der nächsten Hochglanzbroschüre. Jeannette Goddar