ITB entdeckt Schüler als vergessene Reisende

■ Experten-Forum befaßte sich auf der Internationalen Tourismus-Börse mit Reisen als Thema im Unterricht/ Auch in der Schule soll Tourismus mit all seinen Folgen stärker thematisiert werden/ Schulbücher vernachlässigen das Reiseverhalten ihrer Klientel

Charlottenburg. Die Tourismusbranche mit all ihren Facetten läßt keinen aus. Jetzt hat die Forschung die Schüler für sich entdeckt. Immerhin sind sie durch Klassenfahrten mit einer halben Milliarde Mark am Jahresumsatz der Wachstumsbranche beteiligt. Unter dem Motto »Die vergessenen Reisenden« befaßte sich auf der Internationalen Tourismus- Börse eine Expertenrunde mit Schulreisen sowie mit Tourismus als Schulthema. Viel zuwenig habe sich die Erkenntnis, daß die Schüler von heute die Touristen von morgen sind, bisher durchgesetzt, konstatierten Wissenschaftler und Reiseexperten. Nicht nur auf dem freien Markt, der Angebote guter Schulreisen seit jeher vernachlässige, sondern auch im Unterricht komme Tourismus als Thema zu kurz.

Mehr als drei Viertel der 14- bis 19jährigen Schüler haben schon einmal eine Urlaubsreise unternommen. Die meisten waren bereits im Ausland. Bis zu den Schulbuchverlagen habe sich die Erkenntnis, daß heute die ganze Welt zu den Reisezielen Kinder und Jugendlicher gehört, augenscheinlich noch nicht herumgesprochen, kritisierte Ferdinand Ranft, Hamburger Journalist und Schulbuchexperte. Obwohl Tourismus in den Rahmenrichtlinien der Kultusminister im Geographieunterricht vorgesehen sei, tauche er in 40 untersuchten Geographiebüchern kaum auf. Die vorhandenen Lektionen gingen außerdem an der Realität vorbei. »Die Bücher kennen nur Nord- und Ostsee, die Alpen und das Mittelmeer. Gerade die Heilbäder scheinen eine enorme Lobby unter den Autoren zu haben«, bemerkte Ranft. Eine wirkliche Hilfe bei der eigenen Reiseplanung werde den Schülern nicht geboten.

Auch Lioba Beyer, Professorin für Geographie, fand bei einer Untersuchung geographischer Unterrichtswerke wenig Praxisnahes. Jugendgemäße Reiseformen wie Inter- Rail, Trampen oder Austauschprogramme würden in den Büchern so gut wie nie vorgestellt, so Beyer. Jugendreisebüros oder Jugendaufbauwerke seien kein Thema. Auf ihren ersten eigenen Urlaub und dessen Planung würden die Schüler nicht vorbereitet. Ferdinand Ranft forderte auf der ITB, in der Schule konkrete Reisehilfen anzubieten — Informationen über Vor- und Nachteile von Pauschalreisen, Besprechung von Urlaubsprospekten sowie Erläuterung der verschiedenen Urlaubsmöglichkeiten.

Bildet Reisen, oder schafft es neue Vorurteile? Welche Folgen zieht der Massentourismus nach sich? Auch das müsse Tourismusbesprechung in der Schule leisten. Informationen über Naturschutz, die Auswirkungen der Verkehrsströme in den Süden sowie über ökologische Folgen des massenhaften Hotelbaus. »Den Kindern muß an praktischen Beispielen gezeigt werden, was es heißt, wenn sie fremde Länder bereisen«, sagt Lioba Beyer. »Sie müssen die Zusammenhänge im Tourismusgeschäft kennenlernen.« Nur so könne den Touristen von morgen verantwortungsvolles Reisen beigebracht werden. Sanfter Tourismus solle in der Schule beginnen, so Beyer.

»Wir planen einen Badeurlaub«, »Wir bereiten einen Winterurlaub vor«, »Wir suchen einen günstigen Flug«, »Wir bereisen ein Land in der Dritten Welt«. Solche und ähnliche Lektionen, Rollenspiele oder Lernspiele wünscht sich die Geographieprofessorin in jedem Lehrplan. Ein Vertreter des Westermann-Verlages nahm bei dem ITB-Forum seine Schulbücher in Schutz. So sei das Interrail-Ticket für junge Bahnreisende unter 26 Jahren im vergangenen Jahr in ein Schulbuch aufgenommen worden. Schulbuch-Autor Albrecht Steinecke stimmte zu. Es gäbe durchaus Material, an dem Lehrer sich orientieren könnten. »Außerdem sind Studienräte ja auch in der Regel schon einmal gereist und können ihren Schülern eigene Erfahrungen vermitteln.«

»Wir lehren ja nicht nur aus Büchern«, konstatierte auch ein Berliner Geographielehrer. An seiner Schule sei Tourismus samt allen damit verbundenen Folgen durchaus ein Thema. Selbst wenn die Verfechter von mehr Tourismus in der Schule sich durchsetzen, werde sich so bald nichts ändern. Bis sich eine neue Idee in Schulbüchern niederschlage, vergingen in der Regel mindestens fünf Jahre, so Steinecke. Jeannette Goddar