Vom Nachttisch geräumt: Nacht

Der Polizeipräfekt von Paris formuliert es im Jahre 1831 mit klassischer Prägnanz: „Die Nacht, die den Übeltätern Sicherheit gewährt, verlangt auch eine aktivere Überwachung.“ Wie effektiv diese Überwachung war, kann man 80 Jahre später einem Aufsatz in der 'Zeitschrift für Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten‘ entnehmen: „Wenn der Staat weiter ruhig zusieht, wie durch ein wüstes Nachtleben unsere junge Männerwelt sittlich und körperlich verderbt wird, so ist es in wenigen Generationen um unsere Volkskraft geschehen!“

Tag und Nacht gehören innerhalb der symbolischen Ordnung der europäischen Kultur zu derjenigen Metapherngruppe, die wirkungsmächtigt die Überlegenheit der Vernunft über alle anderen Formen des Geistes behauptet. Die Eule der Minerva beginnt ihren Flug im Morgengrauen, und der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Dialektische Lichtmetaphern zielen immer auf Moral — und verschleiern Gewalt. Die Krise dieses Dualismus, die Adorno begriffsgeschichtlich als Dialektik der Aufklärung beschrieben hat, begleitet das Entstehen der urbanen Modernität in den europäischen Metropolen des 19.Jahrhunderts wie ein Leitmotiv. Joachim Schlörs kulturgeschichtliche Untersuchung über die Nacht in den großen Städten breitet das empirische Material aus, das die Begriffe und Metaphern der Epoche zum Sprechen bringt.

Eine empirische Kulturgeschichte der Nacht hat es mit einem Bündel von Ambivalenzen zu tun. Ihre ergiebigsten Quellen sind die Archive der Gegner der Nacht: der Polizei und der karitativen Bewegungen. In diesen erscheinen die „Nachtschwärmer“ als Störfaktoren oder gefallene Engel, und das Faszinosum Nacht, das ihre Tätigkeit erst notwendig werden läßt, wird sichtbar nur als Negativbild. Aber einen unschätzbaren Vorteil haben diese Quellen doch: Nirgendwo sonst werden die Verdrängungen und Ängste, wird der herrschende kulturelle Kodex mit solcher Offenheit ausgesprochen wie in diesen gleichsam amtlichen Dokumenten, während die Protagonisten der Nacht stumm bleiben oder in ihren positiven Mystifikationen ebenso irreal erscheinen wie ihre Bewacher und selbsternannten Retter.

Schlörs Ansatz ist nicht begriffsgeschichtlich orientiert; die symbolische Ordnung, in die die Nacht eingebunden ist, dient ihm als Rahmen und, wo das Material sperrig wird, als Halt seiner archivarischen Forschungen. Hiermit ist die Stärke und Schwäche dieser Arbeit benannt: Einem schier mißtrauisch machenden Materialüberfluß, dem trotz des pittoresken Sujets der aufgewirbelte Archivstaub anhaftet, steht eine etwas schmalspurige Theoriearbeit entgegen, die sich am Anspruch, die Disziplin der Nachtforschung gründen zu wollen, einen Bruch hebt.

Joachim Schlör: Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840—1930. Artemis&Winkler- Verlag, München 1991, 322 Seiten, 48DM