Für 800 wird die Röhre dunkel

■ Wieder 800 Entlassungen beim Werk für Fernsehelektronik/ Betriebsräte fordern von der Treuhand Gespräch am Runden Tisch: »Die Schmerzgrenze ist erreicht«

Berlin. Beim Ostberliner Werk für Fernsehelektronik (WF) sollen bis zum Jahresende erneut 800 Beschäftigte entlassen werden. Ein Teil der Kündigungen soll schon zu Ende Juni erfolgen. Damit wäre nur noch ein Zehntel der ehemals 9.000 Beschäftigten (1989) übrig. Die erneuten Entlassungen werden von der Treuhand mit dem Hinweis auf drei namentlich nicht benannte Käufer begründet, die das zu privatisierende Unternehmen nur mit maximal 900 Beschäftigten weiterführen wollen. Derzeit gibt es noch 1.700 Beschäftigte, von denen aber momentan nur rund 1.400 arbeiten. 250 Mitarbeiter sind in Kurzarbeit. Bei 240 Arbeitsverträgen handelt es sich um ruhende Arbeitsverhältnisse (Mutterschutz, Bundeswehr). Die Lage der Beschäftigten ist um so drastischer, da sich die von ihnen hergestellte Farbbildröhre momentan nicht so gut verkauft. Der bis 1991 mit der Sowjetunion florierende Handel ist 1992 mit den GUS-Staaten noch nicht wieder vereinbart worden.

Im Betrieb befürchtet man, daß die weitere Verringerung der Beschäftigten bloß der Anfang einer Entwicklung des Werkes zu einer verlängerten Werkbank oder gar einer vollständigen Abwicklung des Betriebes darstellt. Mit 900 Beschäftigten könne der Betrieb nicht mehr rentabel arbeiten. Vergleichbare West-Unternehmen arbeiteten mit rund 2.000 Personen, heißt es.

Der Betriebsrat erklärte, mit der erneuten Ankündigung von Entlassungen sei die »Schmerzgrenze erreicht«. Dies scheint auch für die Beschäftigten zu gelten. Auf einer Betriebsversammlung am Montag hatte sich von den rund 400 Anwesenden eine deutliche Mehrheit für Kampfmaßnahmen ausgesprochen. Der Betriebsrat, so heißt es in einer Erklärung, »wird es nicht zulassen, daß das Heer der Arbeitslosen ohne Perspektive auf Beschäftigung vergrößert wird«. Angesichts einer monatlichen Bewilligung von 120 ABM- Stellen im Bereich Treptow und Köpenick bei gleichzeitig 6.000 Anträgen im gleichen Zeitraum hat der Betriebsrat der Geschäftsleitung die Zustimmung zu den Entlassungen verweigert. Das Modell der Geschäftsleitung sah keine Beschäftigungsgarantien für die Entlassenen an anderer Stelle vor.

In den jetzt schon gespenstisch leeren Werksgebäuden fürchtet man sich vor den Folgen einer weiterhin unsicheren Lage der Beschäftigten. Die vielen Entlassungswellen haben die gewerkschaftliche Vertrauensleutestruktur vollständig aufgelöst. Zu allem Überfluß mußte der Betriebsrat in dieser Situation Neuwahlen ankündigen. Seit Februar konnte man die vorgeschriebene Anzahl von Mitgliedern nicht mehr zusammenbringen. Unter den Beschäftigten sind Wut, Resignation und Abwarten ungleich verteilt. »Die Unsicherheit ist das schlimmste«, sagt eine Kollegin. »Da sind wir uns alle einig.« Anders als auf der Betriebsversammlung halten sich im Gesamtbetrieb Befürworter und Gegner von Kampfmaßnahmen die Waage. Der Betriebsrat hat angesichts dieser Lage in der nächsten Woche zu einem »Rundtischgespräch« mit der Treuhand, IG Metall und Geschäftsleitung eingeladen. Martin Jander