Fachgerecht zerlegt

■ Das Musiker-Projekt Hail im Club JoJo

Die Zeiten ändern sich, die Zusammenhänge auch. Wo früher eine intakte Band war, mit gemeinsamem Wohnort und übers Jahr gemietetem Übungsraum, ist heute das Projekt. Von den wenigen Top-VerdienerInnen abgesehen, kann sich niemand mehr über dem Existenzminimum halten, der nicht gleich mehrere solcher Projekte an der Hand hat. Heute ein Auftritt in Rotterdam, am Montag für drei Tage zu Proben nach Straßburg, anschließend Studioaufnahmen in Montreal.

Susanne Lewis lebt in Los Angeles. Bob Drake lebt in New York. Bill Gilonis und Chris Cutler leben in London. Sie treten unter dem Sammelbegriff und Bandnamen Hail auf. Lewis und Drake, die ihre Ideen seit Jahren auch im Bandprojekt Thinking Plague miteinander verflechten, bewegen sich in den jüngsten Traditionen der Musikgeschichte, etwa auf den Spuren der legendären Henry Cow. Chris Cutler, der Schlagzeuger, ist einer der Musiker dieser Band gewesen, die in den siebziger Jahren respektlos stilistische Grenzen sprengte. Der Gitarrist Bill Gilonis ist eher zufällig zu Hail gestoßen.

Auf der Bühne des JoJo-Clubs zeigt sich einmal mehr, daß Susanne Lewis der Kopf von Hail ist. Sie komponiert und textet nicht nur fast alles, sie bleibt auch den ganzen Abend der Fels in der Brandung. Mit sprödem Charme, begleitet vom eigenen schroffen Gitarrenspiel, besingt sie Rachedurst und Todessehnsucht, die Familie als moralische Falle oder ganz einfach nur ihr Faible für Rennfahrer. Sie klingt klar und entrückt, naiv und verlebt, gelangweilt und trotzig. Nie ist eindeutig, ob sie nur eine Rolle spielt oder tatsächlich schlechte Laune hat. Ihre Stimme liegt den ganzen Abend über allem, intoniert ein Liebeslied für eine verstorbene Freundin — »there is a star up in the sky named Ursula« —, versetzt wehmütig in verflossene Zeiten. Doch die einsetzenden Instrumente, Baß, Schlagzeug und Gitarren, zerstören jäh die Illusion. Kurzfristig gelingt die Verwirrung, Bruchstücke musikalischer Erinnerungen — Humble Pie und Grand Funk Railroad, Lydia Lunch und Pink Floyd — tauchen wie Schemen auf und verschwinden ebenso wieder.

Fachgerecht werden die siebziger und achtziger Jahre zerlegt. Die Romantik der Band ist zäh und endet abrupt. Das Publikum verlangt Tempo, Hail reagieren, ziehen nach einigen Songs mächtig an und drängen sogar den Ärger über den schlechten Sound im JoJo in den Hintergrund, und trotz ihrer sehr düsteren Musik hinterlassen sie am Ende das Gegenteil: Gelöstheit und Begeisterung schlagen auf die Bühne zurück — und das obwohl die vier schon bei der ersten Zugabe auf das gerade verklungene Repertoire zurückgreifen müssen. Anna-Bianca Krause