Gleichmachen, wegdenken

Panajotis Kondylis stellt der Gegenwart die Diagnose  ■ Von Joachim Günter

Das endgültige Buch zur Diskussion um Moderne und Postmoderne ist anzuzeigen, eine definitive Bilanz. Jedenfalls dem Gestus nach. Panajotis Kondylis liebt den generalisierenden Zugriff. Ein Blick auf andere Publikationen des zwischen Heidelberg und Athen pendelnden Privatgelehrten verrät den Großtheoretiker mit Schlüsselattitüde — Titel wie: Die Entstehung der Dialektik, Die neuzeitliche Metaphysikkritik oder Konservatismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang. Nun also die Kunde von einem Niedergang, dem der „bürgerlichen Denk- und Lebensform“. Zur Folie der Betrachtung genommen, soll er uns über das Unzulängliche, ja „unvermeidlich Ideologische“ unserer Gegenwartsdiagnosen belehren.

Wie ist nicht um Differenzierungen gestritten worden! Darüber, ob die Postmoderne die Moderne ablöst, beschließt, transformiert oder gar vollendet. Ob sie sie verrät: als verkappt neokonservativer Rückgriff auf vormoderne Üblichkeiten; oder aber humanisiert: als pluralistischer Stilmix, der das eiserne Diktat des abendländischen Rationalismus bricht. Statt dessen nun ein Schema, das mit derlei Freisinn aufräumt. Denn die Moderne, auf die sich etwa ein Jürgen Habermas beruft, wenn er sie ein „unvollendetes Projekt“ nennt, gibt es darnach gar nicht mehr. Ihre Ideen und ihr emphatischer Vernunftbegriff, so urteilt Kondylis, sind Kinder des bürgerlichen Zeitalters. Das aber endet im 19.Jahrhundert. Es sei eine „Paradoxie, bürgerlich-liberale Ideale und Verfahren, aber ohne Bürgertum und klassischen Liberalismus, für die Probleme der Massendemokratie zu empfehlen“.

Damit fällt die übliche Datierung, die die Moderne erst dort enden läßt, wo die Postmoderne beginnt, nämlich in den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts. Konsequenzen hat das zumal für jene Moderne, die wir die Klassische nennen, als deren frühe Heroen wir Baudelaire, Poe und Rimbaud ansehen und die wir mit der künstlerischen Avantgarde auf eine Linie stellen.

Die Postmoderne: Beginn um 1850

Bislang wurde der literarisch-künstlerische Zweig als zugehörig zum bereits im 17. und 18.Jahrhundert formulierten Erkenntnisprojekt genommen, also zur Moderne im epochalen Sinn gerechnet, die soviel bedeutet wie Neuzeit, Aufklärung, mündige Vernunft. Mit dieser Auffassung bricht Kondylis; sein Schema verlangt eine rigorose Neuordnung der Fraktionen. Ist jene als Neuzeit verstandene, philosophische Moderne eine Sache des bürgerlichen Zeitalters, so weist Kondylis der sich zuerst 1850 herum artikulierenden literarisch-künstlerischen Moderne einen eigenen geistesgeschichtlichen Schlüsselcharakter zu. Sie wird zum Prototyp der Postmoderne. Beide gehören zusammen.

Zunächst sozialistisch, denn beides sind massendemokratische Phänomene. Anders als der Liberalismus, der de facto Oligarchie bedeute und zwar Freiheit auf seine Fahnen geschrieben hatte, von bürgerlicher Gleichheit indes eine Ansicht hegte, die sich mit faktischer Klassenherrschaft gut vertrug, lasse die Massengesellschaft mit ihren Verbands- und Artikulationsformen „das geschlossene politische Spiel“ des Bürgertums nicht mehr zu. Dieses geht nicht allein seiner politischen Vorherrschaft verlustig, auch sozial büßt es an Status ein: es verliert Konsumprivilegien „durch die immer steigende Beteiligung der breiten Massen am Konsumieren einer immer steigenden Massenproduktion“, deren Hochphase nach dem Zweiten Weltkrieg in den westlichen Industrieländern einsetzt.

Eine durch Bürgerherrschaft und Sozialhierarchien geprägte liberale Moderne dort, eine demokratische Massengesellschaft als Postmoderne hier — es hieße den Ehrgeiz des Autors unterschätzen, glaubte man die epochale Bestimmung damit bereits geleistet. Ein paar soziopolitische Gemeinplätze machen noch keinen philosophischen Diagnostiker. Kondylis schwebt eine Diagnose großen Stils vor: sie zielt auf eine Superstruktur, die unsere Weltaneignung umfänglich bestimmt, auf ein tief im Herzen der Vernunft sitzendes Gesetz: „nicht Denkinhalte, sondern Denkfiguren sollen miteinander verglichen und in ihrer Aufeinanderfolge betrachtet werden.“

Sind Dinge gleich, die verschieden aussehen, oder sind die verschiedenen Dinge letztlich gleich? Hegel vs. Wittgenstein und Panajotis' Entscheidung

Der Furor theoreticus dieser Maxime ist nicht unvertraut — und nicht unproblematisch. Er läßt an ideologiekritische Großunternehmen aus dem Umkreis des Spätmarxismus denken, die, in gut materialistischer Manier und mit hegelscher Dialektik, in der Denkform die Warenform (A. Sohn-Rethel) entdecken wollten.

Hinter dem bunten Spiel der Erscheinungen entdeckt dieser Blick ein starres Gerüst, das doch nur Immergleiche. Reflektierenden Autoren ist dies schmerzhaft-scharf bewußt gewesen. Vom „bitteren Opfer“, von „Verarmung der Erfahrung durch Dialektik“ sprach Adorno, der gleichwohl dafür votierte: es sei in der verwalteten Welt deren abstraktem Einerlei angemessen. Nicht Methodenwillkür also, sondern objektive Not. Dennoch bleibt ein Verdacht gegen das Subjektive. Die Akzentuierung der Denkform, des Gesetzmäßigen anstelle des Einzelfalles, korrespondiert der Neigung nach erklärender Vereindeutigung der Welt. Demgegenüber hat Ludwig Wittgenstein einmal die konträren Weisen des Philosophierens durch den Vergleich seiner eigenen Herangehensweise mit derjenigen Hegels erläutert. Ihm schien, Hegel wolle immer sagen, daß Dinge, die verschieden aussehen, in Wirklichkeit gleich seien, während es ihm um den Nachweis gehe, daß Dinge, die gleich aussehen, in Wirklichkeit verschieden seien. Mit welcher dieser beiden Seiten es die vorliegende Studie hält, macht ihre generöse Vorsetzung klar, die explizite methodische Gewißheit, „daß Denkfigur und Funktionsweise der Gesellschaft in ihren verschiedenen Tätigkeiten und Bereichen auf dieselbe formale Struktur ohne Rücksicht [sic!] auf die fast unübersichtliche Vielfalt der Inhalte reduziert werden können“.

Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform, von dem Kondylis im Titel seines Buches spricht, enthüllt sich dank dieser Reduktion als Ablösung des synthetisch-harmonisierenden Denkens durch dasanalytisch-kombinatorische. Im bürgerlichen Weltbild ist die Vielstrebigkeit der Käfte, die Individualität der Dinge anerkannt — doch das Ganze bildet eine harmonische und gegliederte Einheit. Widersprüche, Konflikte, Kollisionen werden, schreibt Kondylis, „im Sinne übergeordneter vernünftiger Zwecke aufgehoben“. Gott ist noch nicht abgeschafft, aber durchs Naturgesetz werden ihm die Hände gebunden; das bürgerliche Bildungsideal versöhnt Sinnlichkeit und Geist; die Kultur wird natürlich und die Natur kultiviert.

Das Synthesebestreben ist ursprünglich nicht ohne polemische Tendenz. Dem Verdrängen Gottes aus seiner Allmachtsposition, wodurch er zwar noch als Schöpfer und ursprünglicher Gesetzgeber der Naturordnung, nicht länger aber als spontan Eingreifender vorgestellt wird, entspricht im Sozialen die Bändigung der Fürstenwillkür. Die aufklärerische Stoßrichtung ist eine doppelte und insofern hochpolitisch: gleichzeitig mit dem Herrn im Himmel sollen die Herren auf Erden abdanken. Der Verfassungsstaat beseitig die feudale Anarchie; die Verrechtlichung der „Beziehungen gibt dem bürgerlichen Verlangen nach fester Lebensorientierung einen Rahmen; die Berechenbarkeit der Verhältnisse konsolidiert die Wirtschaft, den jungen Kapitalismus.

Die Anthropologie als neue Theologie, zum Ausgleich des Verlusts der Mitte?

Harmoniebedürfnis und Harmonienötigung sind nicht zu trennen. Der Kleinbürger sieht sich eingekeilt zwischen oben und unten. Erst steht seine wirtschaftliche Macht im krassen Mißverständnis zur politischen Ohnmacht, und er muß seine Forderungen gegenüber den traditionellen Herrschaftsschichten mäßigen, dann — nach dem politischen Sieg — hat er zu fürchten, von den besitzlosen Massen beim republikanischen Wort genommen zu werden. So wird das juste milieu, die Suche nach der rechten (oder auch lauen) Mitte, zum Orientierungsmuster schlechthin. Kondylis entdeckt es in der Anthropologie, die im Zuge der Aufwertung der diesseitigen Natur des Menschen die Theologie von ihrem Platz verdrängt hat, nun deren normative Aufgaben wahrnehmen muß, deshalb aber dem Natürlichen selber Vernünftigkeit beilegt. Er entdeckt es in der Ökonomie, wo der Eigennutz nicht als Opponent des Gemeinwohls ausgegrenzt, vielmehr als förderliches Element integriert wird.

Selbst in der autonom gewordenen Kunst, die aufgehört hat, eine gefällige Magd der Könige und Kirchen zu sein, zeigt sich die synthetisch- harmonisierende Denkform in der „Verschmelzung des Ästhetischen

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„Verschmelzung des Ästhetischen mit dem Ethischen, des Schönen mit der Idee und der Wahrheit“, wie Kondylis formuliert — leider ohne zu verraten, an wen er dabei denkt. Und schließlich findet er das Prinzip auch in Philosophie und Wissenschaft.

Wo es aber so nicht stimmt. Die ideellen Gründerväter der bürgerliche Moderne, Galilei, Newton, Kant, verfuhren wesentlich zergliedernd, sie trennten mehr, als sie vereinten — was Kondylis nicht leugnet, wohl aber unterbelichtet. Verkürzt gesagt: es steckt zuviel Hegel im Kondylis. Gerade für das 19.Jahrhundert, das in der Untersuchung stellvertretend für die liberale Moderne figuriert, gilt, richtete man den Blick etwa auf Schopenhauer und Darwin, daß die angebliche Bindung der Selbsterhaltung an eine ursprüngliche Weltvernunft längst aufgelöst war. Als philosophische Konstruktion einer neuen Einheit von Vernunft und Wirklichkeit steht der Hegelianismus abseits; stimmig als Zeitdiagnose wird er, und so auch Kondylis' Skizze, wenn man sich weniger an das wissenschaftliche Weltbild der Forschung als an die allgemeinen bürgerlichen Maximen hält — an das also, was sich praktisch auf die Lebensgestaltung auswirkt. Man nehme nur das bourgeoise Ideal von der Ehe als einer Institution von Geschäft und Geschlechtstrieb. „Die für die bürgerliche Seele so wichtige goldene Mitte zwischen Geld und Ethik, Kalkül und Herz scheint an diesem Kreuzpunkt gefunden zu sein“, schreibt Kondylis. Hier trifft, trotz des Zerrbildhaften, der Synthesegedanken zu. Ebenso beim zweiten Zivilstand des Bürgers, dem Beruf, zu dem es heißt: „Der Begriff des Berufs bildet die große Resultante, in die alle wesentlichen Elemente der bürgerlichen Synthese einfließen: ethischer Sinn und materieller Nutzen, rationales Kalkül und Tatendrang, Selbstzucht und Streben nach Erfolg. (...) Durch ihre Bindung an den Beruf hört die Persönlichkeit auf, eine bloße psychologische Größe zu sein, und gewinnt sowohl eine soziale und ökonomische als auch eine ethische Dimension.“

Persönlichkeit meint Ich-Stärke; die Idee eines fest gegründeten, in sich ruhenden Selbst schwingt darin mit. Für Kondylis markiert dies eine zentrale Differenz. Das Synthesestreben faßt, bei aller Harmonisierung, die Dinge als eigenständig auf. Die bürgerliche Moderne pflegt ein Pathos des Individuellen. Ganz anders sieht der Autor die mit der Massengesellschaft anhebende analytische Kombinatorik: „Hier gibt es keine Substanzen und keine festen Dinge, nur letzte Bestandteile, die durch konsequente Analyse ermittelt werden, Punkte oder Atome, deren Wesen und Existenz eigentlich nur in ihrer Funktion besteht, d.h. in ihrer Fähigkeit, zusammen mit anderen Punkten oder Atomen immer neue Kombinationen einzugehen.“

Je gründlicher die Dekomposition, desto freier die Rekonstruktion. Der Effekt: eine Beliebigkeit der Schöpfung. Daß sich dieses Denken durchsetzt, machen heute, auch ohne daß Kondylis sie erwähnt, genmanipulierende Chromosomenbastler schlagend evident. Anders als die Synthese, die Übereinstimmung schafft, wo auch Gegensatz möglich wäre, zeugt beliebige Kombination von der Gleichgültigkeit gegenüber dem Material. Nichts kennzeichnete besser die Ambition der Studie als ihr ungebremster Drang nach lückenloser Systematik. Kondylis ersetzt durch Konsequenz, was ihm an essayistischer Leichtigkeit abgeht. Abschnitt für Abschnitt, Gebiet für Gebiet, verfolgt er die Verflüssigung des Substanziellen, die Verwandlung von Qualitäten in Quantitäten, von gegliederten Ganzheiten zu heterogenen Kombinationen, von individuellen Wesenheiten in funktionale Elemente durch Lyrik und Roman, durch Malerei, Plastik, Architektur, Musik und Film.

Zwölftonmusik, Quantenmechanik, Urteilslogik: trifft sich alles in der Atomisierung?

So sieht er das kompakte Ich des bürgerlichen Bildungsromans zum Bewußtseinsstrom dissoziiert und den Erzählstrang durch Montage ersetzt. Die Impressionisten erscheinen als Zerleger des „Gegenstands in Farbwerte und die Kubisten als Analytiker der Formen. Die Zwölftonmusik wird als „Gleichschaltung der Töne“ apostrophiert; von der Physik heißt es, Elektrodynamik und Teilchentheorie vollstreckten „buchstäblich den Gnadenschuß auf den Substanzbegriff“. Der Prozeß ist immer der gleiche, ob nun die Philosophie von der Begriffs- zur Urteilslogik über oder die Quantenmechanik die „Verwandlung der Materie in Energie“ betreibt, oder ob Linguistik, Soziologie und Anthropologie das „strukturale“ Denken entdecken: Eine analytische Zergliederung, die Kondylis als Atomisierung und Entleerung charakterisiert, läßt neutrale Elemente zurück, woraufhin „ein Kombinationsspiel ohne Grenzen beginnt“. Analysieren, geichmachen, kombinieren — das ist der neue Zug der Zeit. Die Art, wie Kondylis die Ästhetik in den Prozeß der allseitigen Nivellierung einfügt, ist von Borniertheiten nicht frei.

Gegenständlichkeit und hohe Idealität treiben im Hintergrund ihr anachronistisches Unwesen. Lanciert der Autor hingegen das Schlagwort vom „offenen Kunstwerk“, so glaubt man ihm gern den Blick in Umberto Ecos gleichnamige Schrift, nicht aber Intimität mit der Sache. Ihm zufolge wird die Vorreiterrolle der literarisch-künstlerischen Moderne gerade beim kulturellen Werteverfall eklatant. Dekadenz und Halbwelt, Bohèmien und Dandy stürmen die bürgerliche gute Stube. Kondylis spricht von „sogenannter Kultursenkung“ und meint das Salonfähigwerden von Tango und Jazz, die Offenheit der Literatur und Malerei fürs Grelle und Schockierende. Ehedem verpöntes Personal, Proletarier, Zuhälter, Lebedamen und Gauner, bevölkern Romane und Leinwände. Hinzu kommt die Figur des edlen Wilden — in summa: eine allgemeine Aufwertung der Underdogs.

Analoges geschieht im Politischen. „Umdeutung des Liberalismus“, lautet das Stichwort. Klassischer Liberalismus ist nicht Demokratie, daß er dann doch dazu wurde, daran hat bei Kondylis vor allem das Postulat der Gleichheit schuld. Wird nämlich der liberale Impetus, der primär auf Freiheit zielt, um den der Gleichheit verschärft, so hat dies deutliche Folgen für das Verhältnis von Individuum und Staat, Gesellschaft und Wirtschaft. Es ist etwas anderes, ob es heißt, „alle sozialen Rollen stehen grundsätzlich allen Individuen offen“, und dies als formell freier Zugang verstanden wird, oder ob man ein Postulat materialer Gleichheit daraus macht, also faktisch allen Individuen dieselben sozialen Ausgangsbedingungen verschaffen will. Dann nämlich wird aus dem liberalen Nachtwächterstaat, der auf die „unsichtbare Hand“ marktwirtschaftlicher Regelung vertraut und sich aus allem heraushält, der Sozialstaat, der institutionelle und dirigistische Maßnahmen trifft, um effektive Chancengleichheit herzustellen. Seit 1924, genauer, seit Werner Sombardts Buch Der proletarische Sozialismus gibt es für diese sozialethische Fassung der Gleichheitsidee eine Denunziationsformel, derzufolge in all dem nicht mehr steckt als die „Überallesbewertung der Tatsache, daß es allen Menschen wohlergehe und sie lange leben auf Erden“. Ähnlich sprach Henri Bergson acht Jahre später vom zur Raserei gewordenen „Rennen nach dem Wohlleben“; der rechtskonservative Arnold Gehlen zitierte sie beide und höhnte fortan über die Gleichheit als „sozialeudämonistisches Axiom der Gegenwart“. Bei Kondylis (der das Zitieren verschmäht) liest sich das so: „Das Glück oder das Unglück des Einzelnen wird zum Maßstab bei der Beantwortung der Frage, ob die Gesellschaft ihre Aufgabe erfolgreich bewältigt hat oder nicht. Entsprechend wandelt sich der Gleichheitsbegriff. Es geht nicht mehr um die gleiche Chance, ungleichen Status und Reichtum zu erlangen, sondern um die Gleichheit im Ergebnis, d.h. im Genuß...“ Woraus der davon wenig erbaute Privatgelehrte das vernichtende Resümee zieht: „Was als ethisch motivierte soziale Fürsorge anfing, endet beim individualistischen Hedonismus.“

Erzeugt die Überflußgesellschaft die Massendemokratie?

Möglich macht dies erst ein wahres geschichtliches Novum, eine nie genug zu würdigende Umwälzung unseres Daseins, etwas, das uns von allen früheren Gesellschaften trennt. Es ist die Überwindung der Knappheit der Güter. Keine Massendemokratie ohne Warenüberfluß! urteilt Kondylis — ganz im Sinne jener durchaus nicht unbekannten Auffassung, wonach unser Pluralismus ein Luxusphänomen ist, die Demokratie-für-Alle nur von dem dünnen Eis des Konsums-für-Alle getragen wird und es mit der politischen Freizügigkeit rasch vorbei sein wird, wenn wieder härtere Zeiten kommen. Dies ist die eine Seite, die eigentliche Pointe aber der Darlegung liegt darin, daß die Überflußgesellschaft die Massendemokratie nicht nur trägt, sondern überhaupt erzeuge. Allein die Art, wie die Arbeit organisiert werde, zeitige demokratische Effekte. Die Versachlichung der Herrschaft in der Wirtschaft, wo, wie Kondylis weiß, „schließlich die Befehle nicht mehr als Befehle ausgesprochen werden“, sei schlicht eine Forderung der Produktivität. Wer mehr Leistung will, muß demokratisieren, denn „Leistung steigt durch Partizipation, d.h. durch Auflockerung der traditionellen Arbeitshierarchie und durch eine solche Verteilung der Rollen, die bloß arbeitstechnischen Gesichtspunkten zu entsprechen scheint und daher von allen Beteiligten im Hinblick auf ihre jeweilige Qualifikation gemeinsam beschlossen oder allgemein akzeptiert werden kann.“ Man beachte das Satzende. Der Leitsatz des modernen, voluntaristischen und egalitaristischen Gerechtigkeitskonzeptes, nämlich:gerecht ist, dem alle zustimmen können müssen — dieses von Thomas Hobbes bis John Rawls geltende Prinzip einer prozeduralen (statt substanziellen) Vernunft resultiert hier aus dem Leistungsprinzip. Entsprechend wird die Demokratisierung der Lebensbereiche als „eine funktionale Notwendigkeit der Massengesellschaft“ dargestellt bis hin zur Gleichheit der Geschlechter.

Genesis und Geltung, Geltung und Gültigkeit — Kondylis ist alles eins. Und da dies so ist und dem Autor alle ideellen Größen zu funktionalen Anhängseln der Praxis schrumpfen, erklärt er der Einfachheit halber auch gleich die Menschenrechte zum Wirtschaftsderivat, zu einem Beiprodukt des Prosperierens. Nur sind sie eben keine Erzeugnisse der Produktions-, sondern der Konsumationslogik. Es sollte keine geringe Provokation für unser moralisches Selbstverständnis bedeuten, wenn Kondylis in dürren Worten konstatiert: „Mit der Entdeckung der Würde der Person jedes Einzelnen ging die Entdeckung der unteren Schiene als potentieller Konsumenten einher. Die neuen Produktionsmöglichkeiten erforderten neue Absatzmöglichkeiten, und der sich abzeichnenden Gefahr von schweren Überproduktionskrisen ließ sich nur durch eine wesentlich andere Bewertung der Rolle des Arbeiters im wirtschaftlichen Gesamt-Prozeß vorbeugen. Indem der Arbeiter zum Konsumenten wurde, erlangte er eine Selbständigkeit und Entscheidungsfreiheit, die er als Produzent nie hatte.“ Erst so und hier — das ist tatsächlich Kondylis' Quintessenz — wird er zur Person, erst dadurch erlangt er Menschenrecht.

Das postmoderne Selbstverwirklichungsideal ein Konsumideal, der Grundrechtekatalog bloß ein Freibrief auf „Gleichheit im Genuß“ — es ist leicht auszumalen, was das im weiteren heißt. Die gute alte bürgerliche Persönlichkeit geht flöten, und mit ihr alle Selbstdisziplin. Dem Zeitgenossen erscheint das Leben „als unendliche Menge von konsumierbaren Personen und Sachen, in der man umhertreibt“ und sich nach Lust und Laune bedient. Alles giert nach Lebeschön. Im übrigen gleicht der Hedonismus nur die faktische politische Ohnmacht aus; er resultiere, bemerkt Kondylis, „aus der Einsicht in die Bedeutungslosigkeit des Einzelnen“. Das ist nun allerdings ein sattsam bekannter Gemeinplatz: die berühmte Flucht ins Private — ein doch recht platter Soziologismus.

Einige glossierende Auslassungen dieser Art widmet Kondylis der Kulturrevolution der sechziger und siebziger Jahre. Der politische Liberalisierungsschub jener Zeit wird auf Libidomaß zurückgestutzt. Nachdem Odo Marquard für die Jugend- und Studentenrevolte, zumal ihre Abrechnung mit der Autoritätshörigkeit der Väter, das Spottwort vom „nachträglichen Ungehorsam“ in Umlauf gebracht hat, versucht sich Kondylis mit einer polemischen Überbietung. Er spricht von einem „Aufstand von verwöhnten Kindern gegen kastrierte Eltern“. Auch der Gedanke der Nachträglichkeit findet sich wieder. Die Kulturrevolution war demnach längst überfällig, natürlich keine richtige Revolution, sondern, und damit basta, „eine Anpassungsbewegung auf dem Weg zur reifen Massendemokratie“. Allerdings: Gibt es eine größere Komplementarität als die zwischen (post)modernem Selbstverwirklichungsfimmel und Konsumlust?

Wer glaubt, mit dem Bekenntnis zum Lustprinzip dem Leistungsprinzip zu opponieren, liegt falsch, so radikal er sich auch geriert. Mit aller wünschenswerten Deutlichkeit stellt Kondylis heraus, wie sehr die massenhafte Produktion mit dem massenhaften Konsum verschweißt ist, so daß eigentlich nur eine wirkliche Opposition möglich bleibt: die asketische. Auch ist es ihm ein leichtes, die Denkform der analytischen Kombinatorik gleichermaßen in der Lebensform nachzuweisen. Sie zeigt sich gut am Ineinander von Arbeitsteilung, Leistungsprinzip und sozialer Mobilität. Was vorher in einem einheitlichen Gang und von einer Hand gefertigt wurde, basiert nun auf einem Fertigungsprozeß, der eine minutiöse Zerlegung des Arbeitsvorganges voraussetzt, um dann an mehrere Hände (ehedem: originäre Berufe) delegiert zu werden.

Lust- und Leistungsprinzip: verschweißt

Schon das ist Atomisierung. Hinzu kommt: In der arbeitsteiligen Industriegesellschaft sind Familienbande und Herkommen wirtschaftlich nutzlos, im Gegenteil kann gerade das herkunftsneutrale, ballastfreie Individuum jene soziale Mobilität nutzen, die als potentielle Gleichheit aller aufgefaßt wird. Vom Können sollen Aufstieg und Karriere abhängen, Elternhaus und Klassenzugehörigkeit sollen nicht mehr zählen, alle Türen allen offenstehen. Daß diese Gleichheit nie Realität wird, sondern daß auch eine im Idealfall nichts als die bloße Leistung honorierende Demokratie pyramidal bleibt, nämlich mit Funktionseliten an der Spitze — dafür fällt ein hübsches Wort: Meritokratie, die Herrschaft jener, die die Meriten einheimsen.

Kondylis' kulturkritische Eloge ist auf Moll gestimmt. Man wird ihre gegenwartsdiagnostischen Motive bei Daniel Bell wiederfinden und die Tonart beim schon erwähnten Arnold Gehlen (dessen Lust am Anstößigen allerdings durch Sprachmäßigkeit gedeckt war). Daß der Autor das Nazi-Schimpfwort „Humanitarismus“ zur Kennzeichnung des Menschenrechtsdenkens übernimmt, zeugt gegen die Objektivität, die er für sich behauptet. Fraglos ist an seiner Analyse gerade an der Zuspitzung was dran. Die Herrschaft der analytisch-kombinatorischen Denkfigur hat bisher noch keiner mit dieser Konsequenz beschrieben. Allerdings auch noch keiner mit solcher Ignoranz gegen alle verwendeten Quellen. Die „Ablösung der Aufrichtigkeit durch die Authentizität auf der obersten Stufe der Tugenden“, die Kondylis als drastische atmosphärische Änderung verkündet, hat er bei Lionel Trilling abgeschrieben. Trilling wollte damit ausdrücken, daß man früher die Wahrhaftigkeit gegen andere hochhielt, während es heute wichtiger erscheint, die Echtheit des eigenen Gefühls für sich selbst zu prüfen — eine Art Narzißmus der Wahrhaftigkeit. Daß auf die komplementären Sphären des spielerisch-kommunikativen Konsums und der technisch-produktiven Rationalität „zwei Arten von Werteträgern in der Massendemokratie“ entfallen, die von Therapeut und Manager in Reinkultur verkörpert werden, steht auch in der von Robert N. Bellah et. al. verfaßten Studie über die Gewohnheiten des Herzens, dem Buch, das Mitte der achtziger Jahre zur Soziologenbibel der Kommunitaristen wurde. Nur bekommt der Leser dies dort als Feinunterscheidung zwischen utilitaristischem und expressivem Individualismus erläutert. Die Einsicht in die „Aufhebung der Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem“ wiederum stammt aus Richard Sennetts Werk Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Wenn Kondylis sich nun über die wachsende Selbstverständlichkeit mokiert, „mit der sich Fremde duzen“, oder wenn er den „Austausch von Liebkosungen auf der Straße“ brandmarkt, so ist das nur ein sozialpsychologisch schwacher Aufguß der von Sennett skizzierten Tyrannei der Intimität.

Die Sache wäre der Erwähnung nicht wert, würden die Bezüge hergestellt. Doch Namen und Zitate kommen schlechterdings nicht vor, statt dessen regiert die Durchblickerattitüde. Selbst die Reduktion auf Denkfiguren, auf die sich die Studie biel zugute hält, ist als solche nicht originell: Eine Verschiebung vom Substanzbegriff zum Funktionsbegriff hat Ernst Cassirer schon 1910 untersucht. Gewiß, er tat dies, ohne von der beobachteten Mathematisierung der wissenschaftlichen Erkenntnis den Bogen zu einer Mathematisierung der Lebenswelt zu schlagen. Darin liegt Kondylis' Verdienst. Das Analytisch-Kombinatorische ist überall. So bleibt, bei vielen Einwänden im Detail, der Eindruck eines treffenden Befunds en gros, stellt man die Perspektive in Rechnung: Wer alles „vor dem Hintergrund des Niedergangs der bürgerlichen Denk- und Lebensform“ betrachtet, kann per se nur eine Verlustrechnung aufmachen. Für die Zugewinne bleibt er blind.

Panajotis Kondylis: Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform , VCH-Verlagsgesellschaft, 300 Seiten, geb., 42 DM.