GASTKOMMENTAR
: Abgründe politischer Justiz

■ In den Verfahren gegen Erich Honecker und Co. schaffen westdeutsche Juristen aus Opportunität ein Vereinigungsunrecht

Auch in „fortschrittlichen“ Kreisen westdeutscher Juristen ist es inzwischen ofenbar fast unbestritten, daß man Honecker den Prozeß machen muß. Auf einer Versammlung der „Gruppe Richter und Staatsanwälte in der ÖTV“ in Berlin erhob sich unlängst kaum eine Stimme gegen ein solches Verfahren. Immerhin: Daß man Honecker nicht mehr wird resozialisieren müssen (Spezialprävention), und daß man den nächsten Diktator mit einem Schauprozeß gegen Honecker nicht wird von Rechtsbrüchen abhalten können (Generalprävention), das ist gesagt worden. Und noch vor der Vereinigung wären dies allein die Strafbarkeitsgründe gewesen, die diese Juristen akzeptiert hätten: Aber — so der Vertreter der „Arbeitsgruppe Regierungskriminalität“ der Berliner Ermittlungsbehörden — der Rechtsfrieden im neuen Deutschland erfordere den Prozeß; die vielen Opfer von Honecker und Co. verstünden den Rechtsstaat nicht, würde man ihn davonkommen lassen.

Der so um den Ruf des Rechtsstaats besorgte Staatsanwalt weiß, wovon er spricht. Er war es, der jahrelang die Ermittlungen gegen die Nazimörder in Richterrobe in Freisslers Volksgerichtshof führte, ohne daß auch nur ein einziger von ihnen verurteilt worden wäre. Er weiß, daß die Verbrechen dieser Justizmörder ungesühnt blieben, daß die zahlreichen Opfer des justitiellen Massenmordes keine „Genugtuung“ durch ein Urteil gegen einen dieser Richtermörder erfuhren. Die deutschen Richter haben in der Zeit zwischen 1933 und 1945 35.000 Todesurteile gefällt und vollstrecken lassen; das sind potentiell 35.000 Morde. Und die deutschen Richter haben sich auch durch die Kapitulation der Naziwehrmacht nicht von weiteren standrechtlichen Todesurteilen abhalten lassen.

Nur vor diesem Hintergrund wird auch die ganze Ungeheuerlichkeit des Verfahrens gegen Erich Mielke wegen des angeblichen Polizistenmordes im Jahre 1931 deutlich: Mit den Argumenten der entnazifizierten Nazijuristen der fünfziger Jahre, die gerne behaupten, die Justiz sei keine NS-Hure und nicht alles sei Unrecht gewesen, was sie getan haben, wird dem von der Gestapo gesteuerten Strafverfahren gegen die 1933 angeklagten Kommunisten der Mantel der Rechtsstaatlichkeit umgeworfen, um es als Grundlage für den Aktenprozeß gegen Mielke verwerten zu können. Auf den Fluren des Kriminalgerichts Berlin-Moabit soll zu hören sein, daß die „normale“ Strafjustiz zu Beginn der Nazidiktatur noch rechtsstaatlichen Grundsätzen gerecht wurde: 1935 sei schließlich gegen einen KZ-Wächter ein Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung geführt worden, weil er sein Opfer gequält hatte.

Kann es sein, daß die Richter es nicht besser wissen, da ihre Lehrer schon während der Nazizeit als Juristen ihren jeweiligen Herren gedient haben? Oder weil sie ihr Handwerk aus Lehrbüchern dieser Leute erlernten? Und warum mußten erst Mielkes Verteidiger enthüllen, daß schon 1933 keinem der angeklagten Kommunisten ein Verteidiger zur Seite stand, der ihre Interessen wahrnahm? Warum gibt es keinerlei Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zur rechtsstaatlichen Qualität des damals durchgeführten Strafverfahrens?

Es wäre den Deutschen eigentlich zu gönnen, daß sie den Honecker-Prozeß erleben müssen: wegen der Orgien von Bigotterie, die dort gefeiert werden, und auch wegen der Krokodilstränen, die Rechtshistoriker in zehn Jahren vergießen werden, wenn sie einräumen müssen, daß es im Einigungsprozeß der beiden deutschen Staaten ein Vereinigungsunrecht besonderer Art gegeben hat. Die Verstöße der Justiz gegen Justizgrundrechte, die aus politischer Opportunität von der herrschenden juristischen Meinung gebilligt werden, werden ein weiteres unrühmliches Kapitel bundesdeutscher Rechtsgeschichte schreiben.

Den Jurastudenten des Jahres 2005 wird man die heute erlassenen Haftbefehle, Beschlüsse, und wenn es denn dazu kommt, Urteile vorlesen, so wie man uns an den Universitäten der siebziger Jahre das KPD-Verbotsurteil des Bundesverfassungsgerichts und die politisch motivierten Urteile der späten fünfziger Jahre gegen Kommunisten und Gewerkschafter vorgelesen hat: als Symbol einer fehlgeleiteten, vom Kalten Krieg diktierten politischen Justiz — und zur „Mahnung“, daß sich die Justiz dafür nicht länger „mißbrauchen“ lassen dürfe. Jony Eisenberg

Der Autor ist Justitiar der taz und war als Rechtsanwalt im „Mauerschützenprozeß“ tätig