Auf schmalem Grund

■ Schriftsteller aus den PEN-Zentren Ost und West versuchen, sich selbst aufzuklären

Ist ein Dichter einer, der die Hand, aus der er frißt, auch ausschleckt? Acht Menschen sind in der Pankower Literaturwerkstatt zusammengekommen, legen die Hände auf die hellblaue Tischdecke, die langsam Falten wirft. Am Tisch sitzen sie weniger aus literarischen Gründen als ihrer Biographie wegen: als deutsch-deutsche Literaten im wiedervereinigten Land. Dageblieben — Weggegangen. Gespräche zur Selbstaufklärung 1992. heißt es feinfühlend in der Programmankündigung. Das Publikum nimmt teils mit Zigarre in der Linken Platz.

»Ist der Staat wirklich der einzige Ort, von dem man weggeht oder an dem man bleiben möchte?«, fragt der Vorsitzende des PEN-Zentrums Ost, Dieter Schlenstädt, in die Runde. Er fragt das sanft, sehr unprätentiös, als läge nicht der Hauch einer Entschuldigung für irgendeinen Literaten in der Luft. Gelassen und in alphabetische Reihenfolge stellt Schlenstädt die DiskutantInnen des Abends vor: Fritz Rudolph Fries, Bernd Jentzsch, Joochen Laabs, Brigitte Lange-Müller, Klaus Schlesinger, Brigitte Struzyk und Gerhard Zwerenz. Dagebliebene. Weggegangene. Das Wort DDR kommt nur am Rande vor.

Bernd Jentzsch antwortet als erster, starr und mitleidslos. 1977 hatte ihn das MfS wegen seines Protests gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns vor die Wahl gestellt: Zürich oder Bautzen. Jentzsch ging in die Schweiz und veröffentlichte Lyrik- Anthologien. Jentzsch muß es nicht sagen, jeder weiß es: Er ist aus dem Staat DDR weggegangen worden, er will keine Geschichtsklitterung. Schlenstädts Frage nach den Schmerzen, die er seinen Landsleuten durch seinen Weggang zugefügt hat, muß Jentzsch wie Hohn in den Ohren klingen. Die zwei Männer tauschen keinen Blick.

Fries fängt zu sprechen an. »Ich bin ein Dableiber. Ich bereue das heute nicht, weil wir nicht ein zweites Mal die Gelegenheit haben werden, die DDR zu erleben.« Der Mann vom Ost-PEN beharrt auf dem »Experiment DDR« — und macht dabei ein Gesicht wie ein Gartenzwerg.

Gerhard Zwerenz, der seit 1947 im Westen Deutschlands lebt, fährt ihm in die Parade. Kein Literat der Ex-DDR solle einer Utopie verfallen, die nicht mehr greife. Jede Nach-vorne-Verteidigung richte sich gegen sich selbst. »Wenn man euch repressive Toleranz, staatstragende Literatur vorwirft, dann müßt Ihr das ertragen, ohne beleidigt, ohne beschämt zu sein.«

Zwerenz benennt das Problem präzise. Er nimmt das Geschehen gelassen, mimt den alten, schlauen Fuchs. Für ihn hinkt die aktuelle Debatte schlicht den dialektischen Prozessen hinterher. Unabhängig von der Schelte, der Treibjagd der deutschen Feuilletons, dürften die Literaten keine Angst haben, sich in aller Schärfe den Fragen nach ihrer Rolle als linke Intellektuelle zu stellen. Konkreter wird allerdings auch Zwerenz an diesem Abend nicht. Niemand will in den Eingeweiden des anderen herumstochern.

Die Positionen und Biographien, die auf dem blauen Tischtuch ausgebreitet werden, sind nicht unversöhnlich: Sie haben fast nichts mehr miteinander zu tun. Fries und Schlenstädt wollen die Frage nach der moralischen Antwort mit einem Rekurs auf die Biographie jedes einzelnen Literaten beanworten, Lange-Müller und Jentzsch sind dagegen. Andere — wie etwa der Literat Mickel, der sich aus dem Publikum meldet — möchten den Dichter in das »Reich des ästhetischen Scheins transzendieren« lassen, ihn an einem »symbolischen Ort DDR« verorten, hokuspokusfidibus.

Laabs plagen handfestere Sorgen, er will sich von der 'FAZ‘ nicht als Hüter der SED-Diktatur beschimpfen lassen. Ein Mann aus dem Publikum steht auf und fordert, Günther Grass und Walter Jens statt der Ostliteraten auf das Podium zu hieven. Er will die beiden Großschriftsteller nach ihrer Verantwortung im Kapitalismus fragen...

Das Gespräch zerfasert, wird mühsam zusammengehalten durch den abschließenden rhetorischen Bruderkuß von Gerhard Zwerenz: »Wir Dichter dürfen nicht Büttel irgendeines Staates sein! Wir müssen absolut skeptisch sein!« Das Gespräch der Literaten, die gegenseitige Selbstaufklärung, soll fortgesetzt werden. Auch beim nächsten Mal werden kleine Wasserflaschen Marke Christinen-Brunnen einzeln vor den Dichtern stehen. Mirjam Schaub

Heute um 19.30Uhr findet in der Literaturwerkstatt ein Gespräch mit Wolfgang Schorlemmer und Hermann Kant statt. Majakowskiring 46/48, 1100 Berlin-Pankow