»Enklave im braunen Meer«?

■ Ein Buch dokumentiert den Widerstand und die Opposition im Bezirk Charlottenburg zwischen 1933 und 1945

Ohne Zweifel, der »Neue Westen« war den Nationalsozialisten suspekt. Konzentrierte sich doch entlang des Kurfürstendamms eine Kunst- und Kulturszene, die ganz und gar nicht in den Mief der braunen Gemütlichkeit paßte. Der Kurfürstendamm und Charlottenburg waren in den zwanziger Jahren Symbol der Weltoffenheit schlechthin. Doch nicht erst nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten wurde dieser Stadtbezirk zum Ziel der braunen Schläger.

Bereits am 14.September 1931 zogen etwa 1.000 SA-Männer an den Ku'damm und verwüsteten die Cafés und Etablissements zwischen der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und der Uhlandstraße. »Die Polizei konnte nicht gut annehmen, daß diese Trupps zum Kurfürstendamm ziehen, um eine Tasse Kaffee zu trinken«, bemängelte damals die 'Vossische Zeitung‘ den nachlässigen Einsatz der Ordnungshüter. War dies nur eine erste Übung, so diente die Gewalt den Nationalsozialisten zwei Jahre später, den Stadtbezirk zu kontrollieren.

Daß sich gegen die Gleichschaltung die unterschiedlichsten Formen des Widerstandes und der Opposition regten, schildert Heinrich-Wilhelm Wörmann eindrucksvoll in seinem Buch Widerstand in Charlottenburg, das als Heft 5 der Schriftenreihe über den Widerstand in Berlin von 1933 bis 1945 soeben erschienen ist. Doch ob Charlottenburg als eine »Enklave im braunen Meer« bezeichnet werden kann, so eine erste Überschrift des Buches, scheint fraglich, da die vorliegende Dokumentation herausstellt, wie sehr das Widerstehen sich in dieser Zeit auf die Handlungen einzelner und kleiner Gruppen beschränkte.

»Wir waren zu wenig Menschen, die mit dem bösen Mann Verstecken spielten. Wir hätten viel, viel mehr Menschen retten können, wenn wir mehr gewesen wären. Es gehörten ein, zwei Dutzend Menschen nacheinander und miteinander dazu, um ein Leben zu retten«, berichtete Herta Zerna, die als Redakteurin im Haus des Rundfunks 1941 die Jüdin Ruth Moses, getarnt als Stenotypistin, in ihrer Redaktion unterbrachte. Gerade die Schilderungen der Zeitzeugen, die mit dem umfassenden Text verwoben sind, stellen die Ohnmacht und Hilflosigkeit in Anbetracht staatlich legitimierter Gewalt und Willkür heraus.

Über die Darstellung des Widerstandes hinausgehend, ist dieser Band der »Gedenkstätte Deutscher Widerstand« zu einem umfangreichen sozialhistorischen Portrait des Stadtbezirks Charlottenburg in den zwölf Jahren der braunen Diktatur geworden. Dabei unterscheidet sich dieser Bezirk von anderen Stadtteilen durch seine Bevölkerungsstruktur. Hier gab es die unterschiedlichsten Richtungen der Opposition. Kirchenkampf und Widerstandsaktionen der Kommunisten waren hier ebenso präsent wie einzelne Vertreter der konservativ militärischen Richtung. Aber auch im Untergrund lebende Juden, die sich, im Angesicht der Institutionen ihrer Verfolger, nach dem Ende des Unfaßbaren sehnten und immer wieder von wenigen einzelnen, die den Mut dazu aufbrachten, versteckt wurden. Das ging immer nur solange gut, bis sich eine Nachbarin nach dem »fremden Besuch« erkundigte.

Die ganze Bandbreite des Lebens im Bezirk Charlottenburg scheint in dem Buch Heinrich-Wilhelm Wörmanns auf. Dabei verbindet er in seiner Darstellung den Widerstand unterschiedlicher gesellschaftlicher Richtungen mit der Darstellung wichtiger, im Bezirk angesiedelter Institutionen. Die Geschichte des Widerstandes und der Opposition wid damit lokalisierbar.

Ein solcher Ort war die »Reichsvertretung der deutschen Juden« in der Kantstraße 158 (dem Grundstück zwischen dem Bilka-Kaufhaus und der S-Bahn), die aus dem »Preußischen Landesverband jüdischer Organisationen« 1933 hervorgegangen war. Diese versuchte — bis zu ihrer durch die Gestapo erzwungenen Schließung 1943 —, der Politik der Diskriminierung durch eigene Initiative und neue Formen jüdischen Zusammenlebens zu begegnen. Eine Vielzahl jüdischer Verbände hatte sich in diesem Gebäude niedergelassen, wie z.B. die Kinder- und Jugend- Alijah, die bis Ende März 1939 die Auswanderung von 4.635 Jungen und Mädchen nach Palästina ermöglichte.

Durch die Auswertung des Evangelischen Zentralarchivs nimmt die Darstellung des Kirchenkampfs in Charlottenburg breiten Raum ein. In den evangelischen Gemeinden dominierten nach den Kirchenwahlen im Juli 1933 in den Gemeindekirchenräten die »Deutschen Christen«. Die Vertreter der Bekenntnisgemeinden schlossen sich daraufhin im Pfarrernotbund zusammen. Im Zentrum der Auseinandersetzungen um die Autonomie der Gemeinden stand die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Ihr Pfarrer Gerhard Jacobi, prominenter Vertreter der Bekenntnissynode, widersetzte sich allen Anfeindungen und Denunziationen. Nun griffen die Nationalsozialisten zur Gewalt. Pfarrer Jacobi wurde am 24.Januar 1934 in seiner Wohnung von sechs jungen Männern überfallen und blutig geschlagen. Als Jacobi am 11.November 1934 versuchte, Flugschriften der Bekennenden Kirche an Vertreter anderer Bekenntnisgemeinden zu übergeben, kam es vor dem Pfarrhaus zur »Schlacht in der Aschenbachstraße«. Bestellte SA-Schläger versuchten die Auslieferung der Flugschriften zu verhindern. Boten, Pfarrer und eine Pfarrgehilfin wurden brutal niedergeschlagen. Beinahe hätte ein SA- Mann auf den flüchtenden Pfarrer Senger geschossen.

Durch Auswertung der vorhandenen Prozeßunterlagen gelang es Wörmann, den sonst nur wenig überlieferten kommunistischen Widerstand in Charlottenburg zu rekonstruieren. Dabei nutzten die Nationalsozialisten den Tod des Sturmführers Maikowsky am 30.Januar 1933 zu ersten Massenverhaftungen im »Kleinen Wedding« rund um die Danckelmannstraße. Richard Hüttig, einst führender Jugendfunktionär beim Rotfrontkämpferbund, konnte sich den Verhaftungen entziehen. Im Juni 1933 versuchte er die dezimierten Häuserschutzstaffeln im Kiez zu reorganisieren.

Doch wurde auch er im September 1933 verhaftet. Im Prozeß um den Tod des SS-Scharführers Kurt von der Ahé wurde Hüttig dieser Tat bezichtigt. Obwohl die Anklage wegen der unter Folterungen erzwungenen Geständnisse in sich zusammenbrach, und das Gericht »nicht zu der Überzeugung gelangt ist, daß Hüttig den tödlichen Schuß auf Ahé abgegeben hat«, wurde der junge Kommunist wegen »schweren Landfriedensbruchs« und des Verstoßes »gegen die Verordnung zum Schutz von Volk und Staat« zum Tode verurteilt. Der Anstaltsgeistliche in Plötzensee, Harald Poelchau, nannte in seinen Erinnerungen diesen Prozeß »einen reinen Justizmord«.

Diese drei Beispiele geben einen Einblick in das umfassende Kompendium über den Widerstand in Charlottenburg. Wörmann hat viele andere mutige Aktionen recherchiert und in seinem Buch zusammengetragen: Mitglieder der Sozialistischen Arbeiterpartei schossen von dem Dachboden eines Hauses in der Kantstraße am heutigen Breitscheidplatz mit einem Expander Flugblätter in die abends die Kinos verlassenden Mengen, bis die SA plötzlich in der Hardenbergstraße die Häuser kontrollierte. Robert Havemann bildete einen Kreis um sich, der sich »Europäische Union« nannte. Über einen Kriminalbeamten aus Wilhelmshaven verhalf Havemann Juden und anderen Verfolgten zu Personalausweisen, die sie als harmlose Wilhelmshavener Bürger auswiesen. Wörmann kann sogar nachweisen, daß am 20.Juli 1944 das Haus des Rundfunks in der Masurenallee durch eine Einheit der Infanterie-Schule Döberitz für zwei Stunden besetzt war. Der leitende Major Jakob, der in den Umsturzversuch nicht eingeweiht war, bemühte sich vergeblich, telefonisch Vollzug zu melden, so daß die Offiziere um Stauffenberg nichts von der Besetzung erfuhren und die Zeit ungenutzt verstrich.

Daß es schon einigen Mutes bedurfte, den verbrecherischen Gesetzen des »Dritten Reiches« zuwiderzuhandeln, beweisen die Berichte einzelner Aktionen. Hans Kasper, der in den letzten Kriegsjahren in der Kulturredaktion des Rundfunks arbeitete, nutzte den Spätdienst zum Druck von Flugblättern. Aber auch individuelle, vielleicht sogar unpolitisch gemeinte Formen der Opposition hat Wörmann zusammengetragen. Da sind die Jugendlichen, die sich am Siemenssteg in einer Grünanlage trafen und begeistert Swingmusik hörten, bis die Polizei bei einer Razzia den Apparat und die Platten in die Spree warf. Gerade dieses Beispiel verweist auf die Problematik des Widerstandsbegriffes. Wo fängt das Widerstehen gegen ein politisches System an, und können Formen von Gegenkultur und Anpassungsverweigerung zum Widerstand hinzugezählt werden?

Heinrich Wilhelm-Wörmann ist es in mühevoller und langjähriger Arbeit gelungen, ein umfassendes Bild der Opposition und des Widerstandes in Charlottenburg zusammenzutragen. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit gewesen, denn die Zeitzeugen werden von Tag zu Tag weniger, und mit ihnen schwinden auch die Erinnerungen. Martin Schönfeld

Heinrich-Wilhelm Wörmann: Widerstand in Charlottenburg. Heft 5 der Schriftenreihe über den Widerstand in Berlin 1933 bis 1945, hrsg. von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin 1991. Kostenlos in der Gedenkstätte in der Stauffenbergstraße erhältlich.