»Die brechen uns das Genick«

■ Die Stimmung der Ostberliner Busfahrer ist auf dem Tiefpunkt, weil sie nur 60 Prozent des Westlohns bekommen und dazu noch mehr arbeiten müssen/ Jeder sechste Fahrer kündigt

Im Busfahrer-Pausenheim Marzahn, wo die Tasse Kaffee komplett noch 40 Pfennig kostet, ist der Feind klar ausgemacht. »Die da drüben brechen uns doch das Genick, wo sie können«, wettert ein Kutscher, der die zehnminütige Rast vor der nächsten Runde dazu nutzt, eine Boulette mit Ketschup einzuschieben. »Der Kapitalismus ist genauso dreckig, wie ihn Marx beschrieben hat, aber das darf man nicht laut sagen, sonst fliegt man raus«. Wütend spült er den letzten Bissen mit einem Schluck Kaffee runter und schlurft zu den sieben Ikarus-Bussen hinaus, die säuberlich aufgereiht neben dem Marzahner Kaufhof an der Enthaltestelle stehen. Die 2.000 Ostberliner Busfahrer sind stinksauer über ihre Entlohung und Arbeitszeit. Wie im gesamten Öffentlichen Dienst bekommen sie nur 60 Prozent des Gehalts ihrer 5.000 Westkollegen. Damit nicht genug, müssen die Ossis jede Woche 40 statt 38.5 Stunden in der Woche arbeiten. Das bleibt nicht ohne Folgen: Seit der Fusion von BVB und BVG zu Beginn des Jahres hat nahezu jeder sechste Ostberliner Busfahrer den Dienst quittiert. Dabei steht die richtige Kündigungswelle erst noch bevor. Sie wird für Ende März erwartet, wenn die Frist abgelaufen ist, in der das Weihnachtsgeld zurückgezahlt werden muß. Es sind hauptsächlich junge Busfahrer, die — gen Westen — zu Reiseunternehmen und Speditionen gehen. Die neue Arbeit ist hart und oftmals saisonbegrenzt, dafür aber gut bezahlt. Wer würde nicht lieber im modernen Lastwagen Europa erobern, statt tagein, tagaus mit einem in die Jahre gekommen Ikarus- Linienbus von Köpenick nach Hellersdorf zu schlenckern.

Zurück bleiben die Familienväter und die Alten. Auch ihnen stinkt's gewaltig, aber die Angst, wohlmöglich vor dem Nichts zu stehen, hindert sie zu gehen. Wieviel die Busfahrer im Westen verdienen, darüber wird im Pausenheim Marzahn heftig spekuliert, aber »darüber reden die von drüben doch nicht mit uns«. Das Verhältnis zu den Westkollegen sei alles andere als gut, sagt ein jüngerer Kollege. »Wenn ich im Westen Linie fahre und mir auf der anderen Straßenseite einer von denen begegnet, kommt mir jedesmal hoch, daß die für die gleiche Arbeit mehr Lohn bekommen«. »Dazu haben wir auch noch körperliche Mehrabeit« kommt der Alte in Fahrt. »Die Ikarus-Busse mußte mit der Hand schalten, während die Automatikbusse drüben fast alles alleine machen.« Ein neu hinzugekommener Kollege erzählt von seiner ersten und einzigen Probefahrt mit einem modernen Doppeldeckerbus bei einer Fortbildung. »Wenn du im Stau stehst kannst du die Klappe vor den Abgasen verschließen. Das sind schon Busse vom Feinsten, sowas kriegen wir hier doch in 20 bis 30 Jahren nicht.« In den Ikraus hingegen kämen die Abgase nahezu ungefiltert herein. »Das atmen wir alles ein, wenn wir 25 Minuten im Stau auf der Leninallee stehen. Da kriegste voll Kopfschmerzen von«, ergänzt der junge Kollege. »Wenn das mal jemand vom TÜV messen würde, würden die Busse bestimmt gesperrt.«

Daß es so viele junge Kollegen in den Westen zieht, können alle in der Runde gut verstehen, auch wenn dies auf ihre Knochen und auf Kosten der Fahrgäste geht. Wegen der massenhaften Abwanderung kommt es auf 18 Buslinien, vornehmlich in Ost- Berlin, zu Engpässen, die durch Überstunden allein nicht mehr zu beheben sind. Die Folge ist, daß die Abstände zwischen den Bussen auf einigen Linien nach 20 Uhr von zehn Minuten auf 20 Minuten verlängert werden mußten. »Wenn dann noch der Vordermann ausfällt, kriegste von den Fahrgästen aber was zu hören«, schimpft ein Busfahrer am Nebentisch.

Nach Angaben der ÖTV beläuft sich das Anfangsgehalt eines jungen Ost-Busfahrers auf 1.864 Mark brutto. Ein gleichaltriger Kollege im Westen verdient 3.107 Mark. »Das ist sozialer Sprengstoff«, ist dem ÖTV-Sekretär für Nahverkehr, Lothar Andres, klar. In keinem Sektor des öffentlichen Dienst wirke sich die Gehaltsdifferenz zwischen Ost und West so übel aus, wie bei den Eigenbetrieben. »Es geht einfach nicht an, daß man die gleiche Strecke fährt, zusammen Pause macht und trotzdem weniger Geld bekommt.« Im Mai, wenn die Tarifverhandlungen für die neuen Bundesländer anlaufen, werde sich die ÖTV voll auf die Forderung einer schnellen Angleichung der Löhne konzentrieren. Als erstes, so Andres, werde man Eberhard Diepgen beim Wort nehmen, der für dieses Jahr eine Lohnausschüttung von 80 Prozent für die Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes in Ost-Berlin angekündigt habe. »Vielleicht«, übt sich ÖTV-Pressesprecherin Martina Sönnichsen in Optimimus, »ist ja doch noch eine Lohnangleichung drin«.

Im Marzahner Pausenheim hat man die Hoffnung schon fast aufgeben. Daß die ÖTV derzeit im Westen für eine Lohnerhöhung von 9,5 Prozent kämpft, statt sich zuerst für eine Lohnangleichung im Osten einzusetzen, beweise doch einmal wieder, daß die Ostler nur die zweite Geige spielten. »Die Mauer im Kopf existiert weiter«, bringt einer Fahrer die Meinung seiner Kollegen auf den Punkt. »Das wird immer so sein«. Plutonia Plarre