Ein Meer von Scheinheiligkeit

■ In Italien verweist ein Mord auf die "Kohabitation" zwischen Mafia und Politik

Ein Meer von Scheinheiligkeit In Italien verweist ein Mord auf die „Kohabitation“ zwischen Mafia und Politik

Im Europaparlament erheben sich die Abgeordneten, trauernd um den von ihnen Gegangenen; in Palermo bahrt ihn die Stadtverwaltung just in jenem Rathaus auf, von dem aus er die totale Ausplünderung und Zer-Spekulierung der Stadt zuließ, in Rom vergießen Parteifreunde Tränen der Rührung und rüffeln jeden, der vordem einmal die Machenschaften dieser trübsten aller parlamentarischen Gestalten anzuprangern wagte; sein antimafioser Nachfolger Leoluca Orlando wird gar zum „Hexenjäger“ erklärt, der im Grunde an der Exekution des Mannes schuld sei. Ein Meer von Scheinheiligkeit begleitet die Trauerfeiern um den ermordeten Europaabgeordneten Salvo Lima. Dabei wäre gerade sein Fall ein geeigneter Grund, inner- wie außerhalb Italiens, einmal jenes Phänomen zu durchleuchten, das in immer größerem Ausmaß alle Staaten durchdringt: das Zusammenspiel von Politik und großer Kriminalität.

Daß Lima mit mafiosen Unternehmern gekungelt hat, pfiffen die Spatzen vom Dach, auch wenn Kritiker der „Sündenbock“-Mentalität zu Recht einwenden, daß ihm zum Beispiel die — seinerzeit sich kommunistisch nennende — Opposition mehr anlastete, als ein Bürgermeister alleine je zustandebringen kann. Doch Limas Taten liegen nicht im Verborgenen und in imaginären Räumen, sondern sind die sichtbare, materialisierte Konsequenz politisch allenthalben gedeckter Entscheidungen — und so ist sein Fall geradezu ein Musterbeispiel, an dem man das langsame Zusammenwachsen politischer und administrativer mit rein krimineller Macht studieren kann. Von der Bauspekulation mit Hilfe immenser öffentlicher Gelder für Landwirtschaft, Tourismus, Erdbebenhilfe — bis zur Deckung illegalen Waffen- und Drogenhandels durch eine überwiegend korrupte Inselverwaltung haben sich Politik und Untergrund-Ökonomie so lange angenähert, bis sie nicht mehr entwirrbar waren. Heute regieren mafiose Clans längst nicht mehr nur in Sizilien, sondern in Rom, in der Mailänder Börse und tendieren zur Ausbreitung weit über Italiens Grenzen hinaus. Schlimmer noch: unabhängig von Sizilien kopieren mittlerweile auch die Unterweltler anderer Länder das Modell.

Europarlamentariern lagen die Vorwürfe gegen Lima — unter anderem mehrere hundert ausschließlich ihm gewidmete Seiten in den Berichten der Antimafiakommissionen — seit langem vor. Geschehen aber ist in Straßburg wie in Brüssel nichts. Der Eindruck drängt sich auf, daß die wackeren Europarlamentarier entweder die Kohabitation von politischer und krimineller Macht gar nicht so schlimm finden — oder, beunruhigender noch, zu dumm sind zu verstehen, was sich da in Europa ausbreitet. Werner Raith, Rom