INTERVIEW
: Exodus der Russen aus unabhängigen Republiken

■ Die taz sprach mit Olenik Galina Gennadijewna vom „Komitee russischer Flüchtlinge“ in Moskau

taz: Hat die Zahl der Flüchtlinge aus den Krisengebieten in den letzten Wochen zugenommen? Wie viele halten sich offiziell in Moskau auf? Gibt es verläßliche Daten?

Olenik Galina Gennadijewna: Nach der letzten Registrierung leben 4.500 von ihnen in Moskau und im Bezirk Moskau noch einmal die gleiche Zahl. Das sind natürlich nur die offiziellen Angaben, basierend auf Unterlagen über die Leute, die sich registrieren lassen. Die offiziellen Daten werden vom Arbeitsministerium erhoben. Demnach haben 800.000 ihre Heimat verlassen, wir gehen allerdings von anderthalb Millionen aus. Die Zahlen werden noch wachsen.

Aus welchen Republiken stammt die Mehrheit der Flüchtlinge?

Die meisten kommen schon seit langem aus Aserbaidschan. Seit kürzerem auch aus Georgien, vor allem aus Ossetien. Dann aus den ehemaligen Republiken Mittelasiens einschließlich Kasachstans und seit geraumer Zeit auch aus Tschetschenien im Kaukasus. Es sind fast alles Russen. Aus Moldawien hat der Exodus auch begonnen und ganz jüngst sogar aus der Ukraine.

Aus dem Baltikum ebenfalls, aber nicht in der Zahl, weil dort trotz allem die Entwicklungen anders verlaufen. Man übt keine Gewalt aus, schafft dort nur schlechtere Lebensbedingungen über einen gesetzlichen Weg. Hauptsache ist, man übt keine Gewalt gegen sie aus. Viele spielen mit dem Gedanken einer Übersiedlung, doch das hieße den relativ guten Lebensstandard aufzugeben. Man hat ihnen dort nichts weggenommen oder sie enteignet. Daher zögern sie.

Wie steht es um die Verabschiedung des Flüchtlingsgesetzes? Gibt es irgendeine rechtliche Grundlage, auf die sich die Flüchtlinge berufen könnten?

Bisher gibt es noch kein Gesetz. Seit zwei Jahren wird es diskutiert, mehr hat sich bisher jedoch nicht getan. Es ist noch nicht einmal in die erste Lesung im Parlament gelangt. Auch die nächste Sitzung des Parlaments wird sich nicht damit befassen, wie die Tagesordnung zeigt. Das läßt sich ganz einfach erklären. Es ist ein so großes Problem, das ungeheure finanzielle Mittel erfordert, um es zu lösen. Da tut man lieber so, als existiere es nicht. Sie bleiben rechtlos.

Die Leute leben unter sehr verschiedenen Bedingungen hier. Die Masse der Hilfesuchenden kommt aus Aserbaidschan. Ihnen bietet man etwas bessere Bedingungen, zumindest irgendeine Unterkunft; in Erholungs- oder anderen Wohnheimen, manche in Pionierlagern, die eigentlich nur für Sommeraufenthalte gedacht sind. Das klingt jetzt gut, aber man muß sich die Bedingungen genauer anschauen. Glück haben die, die in ehemalige Parteiliegenschaften eingewiesen werden. Grundsätzlich haben sie aber wenigstens das Recht erhalten, hier zu wohnen.

In den letzten Jahren erhielten die Flüchtlinge auch keine Arbeitserlaubnis für Moskau. Hat sich daran wenigstens etwas geändert?

Nun, kleine Fortschritte sind gemacht. Wer ein Dokument besitzt, daß ihn als Flüchtling ausweist, der kann mittlerweile in Moskau arbeiten. Nichtsdestoweniger werden auch die nicht immer angenommen.

Wie verhält sich die Moskauer Stadtverwaltung zu den Flüchtlingen?

Eine Kommission der Moskauer Stadtverwaltung beschäftigt sich mit diesen Fragen. Wie überall herrscht auch hier das Prinzip der Bürokratie. Sie halten sich strikt an die Vorlagen und Verfügungen von seiten des Staates. Im Falle Aserbaidschans gibt es eine Verfügung. Also beschäftigen sie sich mit diesen Flüchtlingen. Diejenigen aus Georgien oder anderen Regionen stehen im Regen, es liegt eben kein offizielles Dokument vor. Irgendwie kann man die Bürokraten ja auch verstehen, sie halten sich an die Vorgaben.

Wie begegnen ihnen die Moskauer?

Sehr, sehr schlecht. Und die Presse trägt zu diesem negativen Verhältnis noch bei. Jeder ist sich selbst der nächste, die Moskauer leben ja auch nicht unbedingt in beneidenswerten Verhältnissen. Sagt man ihnen, da kommen noch Hilfsbedürftige, reagieren sie natürlich um so abweisender. Wenn etwas Übles passiert, heißt es: Ach, daran sind die Flüchtlinge schuld. Fehlen Wohnungen, haben die Flüchtlinge sie weggenommen. So weit ist es schon gekommen. Natürlich stimmt es nicht. Flüchtlinge sind willkommene Sündenböcke. Das Interview führte: Klaus-Helge Donath