: Der Mythos der Serenissima
Zur Düsseldorfer Ausstellung „Venedigs Ruhm im Norden“ ■ Von Stefan Koldehoff
Neue Entwicklungen innerhalb der neuzeitlichen europäischen Kunstgeschichte sind fast immer untrennbar mit großen Städten verbunden gewesen. So wären die Hochrenaissance ohne Florenz und seine humanistische Tradition, die Barockkunst ohne die antiken Vorbilder der Ewigen Stadt Rom nur schwer vorstellbar. Ohne die sprudelnden kreativen Auseinandersetzungen in den Künstlervierteln im Paris des 19. Jahrhundert hätte es vielleicht keinen Impressionismus, und ohne die sozialen und kulturellen Widersprüche der Goldenen Zwanziger in der Weltstadt Berlin keinen Expressionismus gegeben. Eine derart geschmacksbildende und richtungsweisende Avantgardestellung unter den europäischen Metropolen nahm vom Beginn bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts auch Venedig ein. An jene Zeit, als von der Lagunenstadt die wesentlichen Impulse für die gesamte europäische Kunst ausgingen, erinnert jetzt eine großangelegte und erstklassig bestückte Übersichtsschau im Düsseldorfer Kunstmuseum. Kaum eine thematisch gebundene Ausstellung der vergangenen zehn Jahre hat sich ihrem Thema mit derart hochkarätigen Exponaten widmen können. Entsprechend lang dauerten die Vorbereitungen: mehrere Jahre arbeiteten die Organisationen an ihrem Projekt, das bereits in Hannover zu sehen war und am Rhein seine zweite und letzte Station hat.
Mythos Venedig
Im Venedig des Settecento hatten sich mehr oder minder zufällig Künstlerpersönlichkeiten zusammengefunden, die unnachahmlich leichtfüßig und galant das Leben in der Serenissima auf Gemälden und in Zeichnungen festhielten. Als Staat wie als Wirtschaftsmacht war die Stadt im angehenden 18. Jahrhundert dabei längst nur noch ein grauer Schatten ihrer glanzvollen Vergangenheit. Zynische Desillusioniertheit und Angst vor der ungewissen Zukunft machten sich innerhalb der regierenden Gesellschaftsschicht breit. Elend und Armut regierten die Straßen. All dies führte zu zaghaften Reformbemühungen innerhalb der höfischen Gesellschaft, vor allem aber zum politisch völlig untauglichen Versuch, aus der Schwäche der anderen Kapital zu schlagen. Spätestens seit dem 1718 geschlossenen Frieden von Passarowitz war Venedig in Europa politisch keine entscheidende Macht mehr, im Mai 1797 löste sich die venezianische Republik gar selbst auf.
Vor allem den Dichtern und Malern jener Zeit oblag nun die selbstgewählte Aufgabe, an Stelle der verlorengegangenen Macht das zu pflegen, was der italienische Kunstkritiker Giandomenico Romanelli den „venezianischen Mythos“ nennt: In ihren Werken feierten sie das im Allgemeinbewußtsein noch fest verankerte Bild von der Stadt der Gedankenfreiheit und der Künste, von Einzigartigkeit und Größe, der scheinbar perfekten Harmonie des Systems, seinem Reichtum und Geist von Geschmack und ungetrübter Lebensfreude. So schilderten die Brüder Francesco und Giovanni Antonio Guardi das Leben und die Musik auf dem Markusplatz, während ihr Kollege Giovanni Battista Piazzetta selbst einen „Ländlichen Spaziergang“ mit Strandidylle für wert befindet, auf einem Gemälde verewigt zu werden. Nach wie vor finden aber auch die traditionellen sakralen, mythologischen und allegorischen Sujets Eingang in die Motivwahl. Giovanni Battista Tiepolo verlegte die „Verehrung der heiligen Dreifaltigkeit“ und die „Wunderheilung des zornigen Sohnes“ kurzerhand in italienische Umgebung, bei Giovanni Antonio Pellegrini weisen „Herkules und die Hesperiden“ deutlich zeitgenössische Modevorlieben auf.
Besondere Bedeutung kam im Venedig dieser Zeit der Vedutenmalerei zu. Die venezianische Variante der Architketur- und Stadtmalerei ist in der Düsseldorfer Ausstellung mit großformatigen Hauptwerken besonders gut repräsentiert. Künstler wie Ricci, Zuccarelli, Canaletto, Tiepolo, Visentini, Bellotto, Piazetti und Longhi hatten es sich zur Aufgabe gemacht, vor allem die lebendig geführte Diskussion um die Zukunft der Kunst in der umbrechenden Gesellschaft zu dokumentieren.
Architekturvorstellungen
Die Architektur eignete sich hierfür hervorragend: Während nämlich die Malerei selbst durch den Widerspruch zwischen ihrer glanzvollen Vergangenheit und den Erfordernissen der eher nüchternen Gegenwart in eine tiefe inhaltliche Krise zu stürzen drohte, bewies die Baukunst ihre Kraft zur eigenständigen und unabhängigen Suche nach ihren Möglichkeiten. Vor allem Antonio Canal, der Canaletto genannt wurde, begnügte sich deshalb nicht mit der erzählenden Funktion seiner Darstellungen. Vier seiner berühmten Stadtansichten, unter ihnen der aus Berlin ausgeliehene „Canale Grande mit Blick auf die Rialtobrücke“ legen in der Düsseldorfer Ausstellung beredtes Zeugnis ab für die aktive Auseinandersetzung des Malers mit der Frage nach der Aktualität der antiken Architekturvorstellungen oder dem Wiederaufkommen des repräsentativen Palladianismus. Canaletto wollte sich dabei bewußt nicht auf die ästhetischen Aspekte dieser Fragestellung beschränken. Er dachte in seinen Bildern auch über Form, Funktion und soziale Aufgabe der Stadt an der Schwelle zur Moderne nach.
Formal bestechen die Bilder der venezianischen Schule nicht erst heute durch ihre Liebe zum Detail. Da ist bei Francesco Fontebassos Portrait eines kleinen Mädchens beim Essen (Nationalmusuem Stock-
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen