Zentrifugalkräfte

■ Der slowakische Nationalismus befördert einen tschechischen Nationalismus

Zentrifugalkräfte Der slowakische Nationalismus befördert einen tschechischen Nationalismus

Seit zwei Jahren zieht sich nun der Prozeß der Auflösung der tschechoslowakischen Föderation dahin. Die faschistischen und antisemitischen Parolen, unter denen am Samstag rund 6.000 Demonstranten eine „unabhängige Slowakei“ forderten, sind nicht neu. Und bekannt in diesem unendlichen „Abschiedswalzer“ zweier slawischer Nationen sind auch die Forderungen der slowakischen nationalistischen Parteien nach einer „Konföderation“, nach einer „lockeren Verbindung mit Prag“. Sie haben die Diskussion über „Wohl und Wehe“ der Tschechoslowakei erst auf die politische Tagesordnung der Föderation gesetzt.

Neu ist etwas anderes: Unerwartet deutlich griffen in der vergangenen Woche die in der Slowakei augenblicklich als „tschechische Seperatisten“ bezeichneten konservativen Parteien in die Suche nach einer Lösung der tschechoslowakischen Frage ein. Ober besser: sie beendeten diese. Mit der Begründung, daß es derzeit keine Basis für weitere Verhandlungen gebe, lehnten sie ein Treffen mit dem slowakischen Parlamentspräsidenten ab.

Doch im Hintergurnd des „Auftretens“ dieses „tschechischen Nationalimus“ stehen weniger nationalistische als ökonomische Gründe. Seitdem in der slowakischen Republik vehment der Rücktritt des Privatisierungsministers gefordert wird, sehen die Ökonomen um Finanzminister Vaclav Klaus wenige Tage vor Beginn der „Couponprivatisierung“ ihr ökonomisches Reformprogramm gefährdet. Seit langem sind sie zudem davon überzeugt, daß eine um die Slowakei erleichterte „Tschechische Republik“ sehr viel leichter den Lebensstandard der „entwickelten“ westlichen Industriestaaten erreichen kann, schon heute fließen die ausländischen Investitionen fast auschließlich nach Böhmen und Mähren.

Knapp drei Monate vor den Parlamentswahlen im Juni haben sich in beiden Teilrepubliken damit nicht nur die antiföderalen Kräfte durchgesetzt, diese Kräfte werden — Meinungsumfragen zufolge — bei den Wahlen auch den Sieg davontragen. Die proföderalen Kräfte stehen dieser Entwicklung nahezu machtlos gegenüber. Die in der „nationalen Frage“ stets zu weitgehenden Kompromissen bereite „Bürgerbewegung“ um Außenminister Jiri Dienstbier muß froh sein, wenn sie mehr als fünf Prozent der Wählerstimmen gewinnen kann. Und von der „Christdemokratischen Bewegung“ des kompromißbereiten slowakischen Ministerpräsidenten Carnogursky spaltete ein nationalistischer Flügel ab. Wie ernst die Lage ist, zeigt sich auch daran, daß Vaclav Havel eine seit langem erwartete Entscheidung immer wieder hinausschiebt. Bis heute hat der Präsident nicht mitgeteilt, ob er bereit ist, sich auch für eine zweite Amtszeit zur Verfügung zu stellen. Der Dramatiker hatte seine politische Zukunft stets mit dem Erhalt der Tschechoslowakei verbunden. Sabine Herre, Prag