„Nach der Wende wurde alles noch schlimmer“

Ausländische Vertragsarbeitnehmer der DDR müssen die Bundesrepublik verlassen/ 20.000 von ihnen sind mittlerweile von der Abschiebung bedroht/ Vor allem Vietnamesen sind betroffen/ Ausländerbeauftragte plädieren für Bleiberecht  ■ Aus Berlin Micha Schulze

„Man kann die DDR doch nicht ausländerfrei an die BRD übergeben“, empört sich Tamara Henschel von der Beratungsstelle für Vietnamesen in Berlin-Marzahn. Nach dem Willen der Bundesregierung müssen fast alle ausländischen Gastarbeiter, die aufgrund von Regierungsabkommen in der DDR gelebt haben, Deutschland im Laufe der nächsten beiden Jahre verlassen. Der frühere Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) gewährte lediglich Aufenthaltsbewilligungen für die Dauer der alten, meist auf fünf Jahre begrenzten Arbeitsverträge. Damit sind rund 20.000 Menschen von Abschiebung bedroht.

Die Vertragsarbeiter stellten die mit Abstand größte Gruppe unter den wenigen Ausländern der DDR. Seit Beginn der achtziger Jahre hatte die SED-Führung aus Vietnam, Mosambik, Angola, Kuba und anderen „sozialistischen Bruderstaaten“ Hunderttausende Menschen in die DDR geholt. Als billige Arbeitskräfte sollte sie die Planerfüllung unterstützen. „Meist mußten sie statt der versprochenen Facharbeiterausbildung die miserabelsten Jobs übernehmen“, erinnert sich Tamara Henschel. Kontakte zur deutschen Bevölkerung waren unerwünscht.

Die Vertragsarbeiter lebten in fünf Quadratmeter großen Wohnheimzimmern ghettoisiert am Stadtrand. Ehepartner und Kinder mußten in den Heimatländern zurückbleiben. Wurden Vertragsarbeiterinnen schwanger, standen sie vor der Alternative, abzutreiben oder heimzureisen.

„Nach der Wende wurde alles noch schlimmer“, sagt Nguyen Thu Thuy, der 1987 aus Vietnam nach Magdeburg kam. Bevor einem deutschen Kollegen gekündigt wurde, entließ sein Betrieb Anfang 1990 alle ausländischen Beschäftigten. Am Vereinigungstag war jeder zweite Vertragsarbeiter der DDR arbeitslos geworden. Heute sind nach Schätzungen von Beratungsstellen nur noch 1.300 in ihren alten Betrieben beschäftigt. Unterdessen kletterten die Mieten der winzigen Wohnheimzimmer in schwindelerregende Höhen, Übergriffe von Skinheads häuften sich. „Jeder dritte in unserem Wohnheim wurde überfallen“, sagt Nguyen Thu Thuy. Unter diesen Bedingungen packten die meisten ihre Koffer. Von knapp 100.000 DDR- Gastarbeitern im Jahr 1989 leben heute nur noch 20.000 in der Bundesrepublik.

Von den Gebliebenen hat rund die Hälfte Asyl beantragt. Große Chancen, als politische Flüchtlinge anerkannt zu werden, bestehen indes nicht. Die Anerkennungsquote zum Beispiel für Vietnamesen liegt bei 0,4 Prozent. So wies erst am 11. März das Oberverwaltungsgericht Lüneburg mehrere Asylklagen mit der Begründung zurück, die Vietnamesen seien keine Regimegegner. Ihr Aufenthalt in der DDR habe vielmehr als „Privileg“ gegolten.

Um Vertragsarbeiter zur freiwilligen Heimreise zu verlocken, bietet das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit Rückkehrprogramme an, zu denen Ausbildungs- und Existenzgründungshilfen gehören. Nach Auskunft des Referenten für Reintegration, Rainer Lotz, stehen dafür zehn Millionen D-Mark bereit. In diesem Jahr seien 400 Vertragsarbeiter in das Programm aufgenommen worden, die pro Person mit 20.000 D-Mark gefördert würden. Die Unterzeichnung des entsprechenden Abkommens mit Vietnam stehe allerdings noch aus, da die vietnamesische Regierung sich weigere, Straffreiheit für „republikflüchtige“ Asylbewerber zuzusagen.

Selbst wenn die vietnamesische Führung einlenkt, könne die Rückkehr „nicht ohne weiteres zugemutet“ werden, meint Gerhard Will vom Institut für ostwissenschaftliche Studien. In Vietnam sei ein Drittel der Bevölkerung arbeitslos, die Inflationsrate liege bei 100 Prozent. Rechtsstaatlichkeit, so Will, sei in der sozialistischen Republik ein Fremdwort.

Nur noch bis 30. April darf Nguyen Trong Quack in der Bundesrepublik bleiben. Tag für Tag steht der 35jährige Vietnamese in der Fußgängerunterführung am Berliner Alexanderplatz und läßt aus seiner Jacke polnische Marlboros herausgucken: „Bevor ich zurückgehe, verdiene ich Geld für meine Familie.“ In Vietnam hatte sich der studierte Ingenieur verschulden müssen, um in der DDR von 1988 bis 1990 als Schweißer arbeiten zu können. „Eine andere Möglichkeit, als Zigaretten zu verkaufen, habe ich nicht“, erzählt der jetzt arbeitslose Vietnamese. „Das Arbeitsamt sagt, es kann nichts für mich tun.“

Tguyen Trong Quack ist kein Einzelfall. „58 Prozent aller Steuerstraftaten werden von Vietnamesen begangen“, erklärt Inspektor Treuner vom Zollfahndungsamt Potsdam. Im vergangenen Jahr beschlagnahmte seine Behörde aus vietnamesischen Taschen und Autos insgesamt 7,3 Millionen Zigaretten, die einen Steuerschaden von 1,43 Millionen D- Mark verursacht hätten.

Die Brandenburger Ausländerbeauftragte Almuth Berger plädiert dennoch für Gelassenheit: „Als ich in Hanoi war, habe ich gemerkt, daß Handel zum Leben der Vietnamesen dazugehört.“ Ihrer Auffassung nach kann von Vertragsarbeitern erst dann Integrationsbereitschaft verlangt werden, wenn sie die Möglichkeiten haben, in der Bundesrepublik zu bleiben. Neben Berger laufen auch Beratungsstellen, Kirchen und Gewerkschaften gegen die rigide Aufenthaltsregelung des Bundesinnenministers Sturm. Bei einer Anhörung im Innenausschuß des Bundestages sprach sich auch die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Cornelia Schmalz-Jacobsen (FDP), für ein Bleiberecht aus.

Unterdessen beginnen die vietnamesischen Vertragsarbeitnehmer ihre Sache selbst in die Hand zu nehmen. Anfang März gründete sich in Berlin die bundesweite „Vereinigung der Vietnamesen“, die bereits über 150 Mitglieder zählt. „Wir wollen uns selbst helfen und politischen Druck ausüben“, nennt Nguyen Luu Hong Quang die Ziele des Zusammenschlusses. „Natürlich“ werde der Schwerpunkt der Aktivitäten in der Durchsetzung des Bleiberechts liegen: „Ohne Aufenthaltsgarantie können wir ausländischen Vertragsarbeiter nicht den Unterschied zwischen der Demokratie der DDR und der BRD entdecken.“