Die Leiden der jungen »Äther-Huren«

■ Vor einem Jahr verstummte das linksalternative Radio 100/ Die meisten Mitarbeiter kamen in anderen Sendern unter

Berlin. Alternativmedien mit ihrer belebenden Mischung aus Selbstausbeutung und Selbstbestimmung gelten als Nachwuchsschmiede für gute JournalistInnen. Allen voran Radio 100. Nach dem Konkurs vor einem Jahr verstummte zwar der linke Schmuddelsender, nicht aber seine ModeratorInnen und RedakteurInnen.

Ein Ritt über die Berliner Frequenzen beweist es. Fest in Radio- 100-Hand ist Rockradio B, wo etwa Ex-Kunstrausch-Chef Harald Asel durchs Programm näselt. Großstadtfieber-Schnauze Karla Schlender plappert dagegen auf DT 64, und der frühere Welt am Draht-Reporter Andreas Jöhrens hetzt für Inforadio durch die Stadt. Andere landeten beim SFB, bei der taz oder beim Privat-TV. Allein Hundert,6 und die 'Bild‘-Zeitung scheinen vom Radio- 100-Virus verschont geblieben zu sein.

»Äther-Huren« und »Verräter«, nennt Manuela Kay die KollegInnen, die es wagten, bei anderen Stationen anzuklopfen. »Damit haben sie ihre Glaubwürdigkeit verspielt.« Desillusioniert hockt »die Stimme« des Alternativsenders seit einem Jahr zu Hause, boykottiert ihr Radiogerät und grollt gegen den Nachfolgesender auf »ihrer« Frequenz 103,4: »Neulich habe ich geträumt, ich breche bei Radio Energy ein und klaue alle Mikrofone.«

Statt Aggressionen haben andere für den neuen Dudelsender nur Schadenfreude übrig. Von den Radio- 100-Leuten, die bei Energy einstiegen, ist kaum einer noch dabei. Während die ungeliebten ausländischen Redaktionen geduldet werden müssen, setzte Energy-»Intendant« (Eigenwerbung) Thomas Thimme seine Wortchefin llona Mahrenbach vor die Tür. Freiwillig ging Politikreporter Andreas Jöhrens, nachdem der Wortanteil immer weiter abgebaut und Sendeplätze an Werbefirmen verkauft worden waren. Heute schwört er auf Inforadio, lehnt Dudelrundfunk und »tendenziösen« Journalismus gleichermaßen ab.

Angesichts der zunehmenden Verflachung der Berliner Medienlandschaft wollte sich Morgengrauen-Moderator Joachim Schulte vom Traum eines linksalternativen Radios mit finanziellem Fundament nicht verabschieden. Mit Nachrichten-Chef Werner Vogel schrieb er einen neuen Lizenzantrag und ein verändertes Konzept, bei dem die Kreuzberger Szene aufheulen wird. Im neuen Radio 100 soll es einen Chefredakteur, ein abgestimmtes Musik- und »kein extrem wortlastiges« Tagesprogramm geben. Die Radio-GmbH setzt sich zusammen aus den Mitarbeitervereinen, den in FIM e.V. versammelten Alternativprojekten und als Geldgeber, wie gehabt, dem Medienkonzern Schmidt & Partner. Während der Antrag beim Kabelrat schmort, wird mit weiteren Finanziers verhandelt.

Erhält Radio 100 eine neue Frequenz, stecken die jungen »Äther- Huren« in der Klemme. Sollen sie ihre Einkünfte von 4.000 Mark und mehr für die Rückkehr in den Alternativsender aufgeben? »Kaum vorstellen« kann sich das Nachrichtenredakteur Knut Vetten, der bei SAT 1 unterkam. Unvergessen bleibt ihm, in welchem Ausmaß sich Radio-100- Mitarbeiter verschulden mußten. Einige waren aus der Krankenkasse oder der Wohnung geflogen.

»Ich komme auf jeden Fall zurück«, sagt Karla Schlender, die ihre Stimme noch DT 64 leiht. »Mir macht ein Stadtradio mehr Spaß.« Auch Angela Gobelin hat es satt, bei Rockradio B immer »Rücksicht auf die Hausfrau in Seelow« zu nehmen. Als Radio-100-Moderatorin habe sie politisch Stellung beziehen können, etwa bei der Räumung der Mainzer Straße oder während des Golfkriegs. »Bei einem öffentlich-rechtlichen Jugendsender in den neuen Bundesländern geht nicht alles«, lernte auch Werner Vogel als Redakteur bei Rockradio B. Und Ex-Morgengrauen-Moderator Jörg Schulze fand bei DT 64 heraus, »daß die Schere im Kopf früh einsetzt«. Für Radio-100- Leute war der Gang zu den östlichen Jugendsendern dennoch eine Chance, unter akzeptablen Bedingungen weiter vor dem Mikro zu sitzen. Enttäuscht wurden nur diejenigen, die in der Belegschaft erneut den Familienersatz suchten.

Unterdessen gehen die Vorstellungen vom neuen Radio weit auseinander. »Ich habe immer das Chaotische geliebt, die Pannen und die Versprecher«, meint Karla Schlender, »da konnten die Hörer spüren, wie Radio gemacht wird.« Und gerade das war Jörg Schulze immer ein Greuel. Auf Professionalität setzt neben ihm auch Nachrichtensprecher Volker Wichtig, heute Pressesprecher der Berliner PDS (»Ich wäre auch zum Bündnis 90/Grüne gegangen, aber die hatten schon einen«). Ob die beiden jedoch wieder zusammenarbeiten werden, ist fraglich. Der Streit vor dem Konkurs hat tiefe Wunden hinterlassen.

Aus dem Äther verschwunden ist neben Manuela Kay fast die gesamte Redaktion des lesbisch-schwulen Eldoradios. In welchem anderen Sender könnten Ahima Beerlage, Birgit Scheuch und Giselle Apricot ein zweiwöchentliches Homomagazin produzieren? Das gleiche Schicksal traf die Nachtsendungen der Audionauten, das Knastmagazin Mauerrisse und nicht zuletzt die Anarcho- Kids von ROZ, dem Radio ohne Zensur.

»Eine feministische Sendung ist selbst bei Rockradio B unvorstellbar«, ergänzt Angela Gobelin die Liste der Unversorgten. Doch die Frauen aus der Dissonanzen-Redaktion bewiesen nach dem Konkurs den meisten Elan und die größten Utopien. Sie gründeten sich als Verein, der in der Radio-GmbH erstmals fest verankert ist. Im Falle der Neulizensierung will sich Angela Gobelin aber mit der Einhaltung der Quotierung und mehr Sendezeit keineswegs begnügen: »Ich wünsche mir ein Radio, in dem nur Frauen arbeiten.« Micha Schulze