Amerika ohne Legenden

War die Eroberung Amerikas eine Entdeckung oder eine Begegnung? So lautet der Historikerstreit um die 500-Jahr-Feiern dieses Jahres. Doch die Suche nach einer „wahren“ amerikanischen Identität ist eine Illusion.  ■ VON ERNESTO SABATO

Die Bezeichnung Entdeckung Amerikas kann vom Kritikerstandpunkt aus sicherlich als abwertend und eurozentrisch gewertet werden, als hätten die großen indigenen Kulturen bis zu diesem Augenblick gar nicht existiert. Das trifft nicht mehr zu, wenn man in Betracht zieht, daß die Europäer von ihnen bis damals keine Kenntnis hatten; sonst kann dieser Ausdruck nur aus exzessiver Selbstliebe als pejorativ empfunden werden. Verwerflich ist allerdings, ihn bis in die heutigen Tage zu benutzen, drückten doch die hellsten Köpfe Europas seinerzeit ihre Bewunderung für das aus, was man auf dem Neuen Kontinent vorfand.

Von diesem legitimen Standpunkt aus wäre es besser, von der „Begegnung zweier Welten“ zu sprechen. Man sollte die von den Unterjochern begangenen Grausamkeiten beklagen und anerkennen. Diese Anerkennung müßte umgekehrt mit der Anerkennung und der Einsicht seitens der Kläger einhergehen, daß die spanische Eroberung auch eine positive Wirkung hatte. Dazu bräuchte man sich nur vor Augen zu führen, daß die spanischsprachige Literatur dank einer großen Anzahl von Mestizen in Amerika eine der originellsten und tiefsinnigsten Literaturen unserer Zeit hervorgebracht hat. Wäre die schwarze Legende eine absolute Wahrheit, müßten die Nachfahren jener unterworfenen Ureinwohner Spanien weiterhin eine längst überholte Dankbarkeit zollen. Dem ist aber nicht so. Statt dessen preisen zwei der größten spanischsprachigen Dichter aller Zeiten — Mestizen — Spanien in unsterblichen Versen: Rubén Darion in Nicaragua und César Vallejo in Peru.

Die schwarze Legende

Diese unheilvolle Legende wurde von den Staaten ins Leben gerufen, die das mächtigste Reich seiner Zeit ausstechen wollten, darunter England, das in der ganzen Welt ebenso schwere Grausamkeiten beging wie die Spanier und sich obendrein noch klassisch rassistisch gebärdete. Bis heute wird im Reich der USA derartig nicht nur mit den Indianern verfahren, sondern auch mit den abfällig als „Hispanos“ bezeichneten Einwanderern und — kraft einer Doktrin, nach der Reagan höher steht als Julius Caesar, Virgilio, Horaz, Leonardo da Vinci, Michelangelo, Galileo und viele andere, die zur Weltkultur einiges mehr beitrugen als dieser drittklassige Schauspieler — schließlich auch mit den Italienern. Nein, hier gab es eine so geistig beschränkte Haltung wie den Rassismus nicht. Von Hernán Cortés, dem Eroberer Mexikos, dessen Frau Indianerin war, bis zu denen, die in jenem monströsen Unternehmen bis an den Rio de la Plata gelangten, sie alle vermischten sich mit den Indianern. Dank eines genetischen Rätsels habe ich eine hübsche Enkeltochter, die leicht inkaische Züge an den Tag legt. Gar nicht zu reden von den bemerkenswerten Kreationen des iberischen Barocks in Lateinamerika, der sich in leichter Abweichung von dem des Mutterlandes entwickelte, wie auch unsere gemeinsame Sprache, die illustre Sprache Cervantes' und Quevedos.

Alle Eroberungszüge waren grausam, blutig und ungerecht. Es genügt, das Buch eines belgischen Priesters zu lesen, in dem er die Schandtaten schildert, die Verstümmelungen von Händen — manchmal gar von Händen und Füßen —, mit denen seine grobschlächtigen, niederträchtigen Landsmänner die Schwarzen bestraften, wenn sie etwas gestohlen hatten, das ihnen eigentlich sowieso gehörte. Dasselbe paßt verhängnisvoll symmetrisch auf die Deutschen, Holländer und Engländer. Wer sind sie, was für Vorzüge hatten beziehungsweise haben sie, die sie berechtigen, die schwarze Legende zu ersinnen und bis heute zu vertreten?

Es ist historisch ungerecht, die Namen derer zu übergehen, die sich für die Indianer und den Erhalt ihrer geistigen Werte einsetzten, als da sind: Bruder Bernardino de Sahagún, die Schule von Salamanca mit ihrem Völkerrecht und der höchst edelmütige Dominikanerpriester Bartolomé de las Casas, der die Indianer aufs äußerste verteidigte. Weit davon entfernt, den Sklavenhandel mit den Schwarzen gutzuheißen, wie fälschlicherweise in der schwarzen Legende behauptet wird, kämpfte er für sie im Namen einer Religion, die den Menschen als heilig betrachtete. Bei allem wird außer acht gelassen, daß es Nachkommen von Spaniern waren, die den Absolutismus ihres eigenen Landes bekämpften und den Aufstand gegen Spanien organisierten: von Bolivar im Norden bis zu San Martin im Süden, der — hier geboren — als Oberst heldenhaft gegen die napoleonische Invasion des Landes seines Vaters Hauptmann Juan de San Martin kämpfte. Zu Recht führt Fernández Retamar den Fall Martis an, einer der aufgeklärtesten, edelmütigsten Männer unserer Unabhängigkeit. Stolz auf seine spanischen Eltern, verteidigte er die Rechtmäßigkeit einer neuen, eigenständigen Kultur und erklärt sich gleichzeitig zum Erben des spanischen Goldenen Zeitalters. Um nicht ständig die berühmten Mestizen anzuführen, seien mein Landsmann Bernardino Rivadavia mit schwarzen und vielleicht sogar indianischen Vorfahren und mein Freund Nicolás Guillén genannt, der Kubaner, der in einem ergreifenden Gedicht auf seinen spanischen Großvater und seinen afrikanischen Großvater eingeht und eine beispielhafte Synthese unseres Mestizentums darstellt.

Die ganze Angelegenheit ist mit dem Problem der „nationalen Identität“ eng verknüpft, einem byzantinischen Problem par excellence. Es wird viel davon gesprochen, „unsere amerikanische Identität wiederzuerlangen“. Aber welche überhaupt, und wie? Wenn wir sagen, „unsere“, bleiben Leute wie ich, die sich durch und durch als Argentinier fühlen, außen vor, denn meine Eltern waren wie die meisten unserer Landsleute Europäer. Welche Identität also? Die der nomadisierenden Indianer und Krieger, die über unsere unermeßlichen, fast planetarischen Ebenen zogen, wo es nicht einmal alte Zivilisationen wie die der Inkas, Mayas oder Azteken gab? Ein Land, das mit dem Hydrat aus Spaniern, Indianern, Italienern, Basken, Franzosen, Sklaven, Juden, Syrern, Libanesen, Japanern kultiviert wurde und jetzt noch mit Chinesen und Koreanern? Seltsamerweise sprechen die meisten derer, die die Wiedererlangung unserer Identität anstreben, die gute, langlebige Sprache Kastiliens und nicht die indigenen Sprachen. Eine paradoxe Art, Autochthones zu fordern.

Wenn wir die Einwanderungen dieses Jahrhunderts mal beiseite lassen, so sollten, wie Uslar Pietri so schön schreibt, drei Hauptakteure übrigbleiben: Iberer, Indianer und Afrikaner. Ohne Zweifel wurde die iberische Kultur vorherrschend, sobald sich die drei Blutströme in höchst komplexen Fusionsprozessen vermischten. Damit stellten die drei Hauptakteure mit ihren Sitten und Gebräuchen, ihrer Religion, Ernährungsweise und Sprache nicht mehr das dar, was sie einmal gewesen waren, und brachten eine neue, höchst originelle Kultur hervor — anders als im angelsächsischen Amerika oder in der europäischen und asiatischen Kolonialzeit, wo einfach und verächtlich verpflanzt wurde.

Zuvor sprach ich von Byzantinismus, denn dieses Scheindilemma bringt uns die berühmten Kettenschlüsse in Erinnerung. Dort fragte man, wieviele Weizenkörner einen Haufen bildeten — Scheinprobleme, die um so schwerer wiegen, wenn Menschen im Spiel sind und nicht einfach nur Weizenkörner, denn in bezug auf Menschen ist nichts dem Wesen nach rein, alles ist unabänderlich vermischt, vielschichtig und unrein. Nur in Platons Reich der idealen Gegenstände gibt es die Reinheit, sei es die eines vollkommenen Dreiecks oder die eines Logarithmus. Gehen wir in der Zeit zurück, in einen beliebigen Teil der Welt: Wir wüßten gar nicht, wo wir mit der Suche nach der illusorischen „Identität“ anfangen sollten.

Denken wir an die Spanier selbst, um die sich derzeit die polemische Diskussion dreht. Bei den Westgoten wäre zweifellos nichts zu holen, denn auf der iberischen Halbinsel wird keine germanische Sprache gesprochen. Wir müßten somit bis ins Römische Reich zurückgehen, das eine so lebendige Kultur hervorbrachte, daß man bis heute eine Sprache spricht und schreibt, die aus dem Lateinischen abgeleitet ist — natürlich nicht aus dem ciceronischen, sondern aus dem Soldatenjargon, weil sich selbst in diesem Bereich nichts Gehobenes finden läßt. Aber warum beim Romanischen haltmachen? Die Puristen wollen gern den „Iberern“ auf den Grund gehen, diesem mysteriösen Volk, dessen Sprache wir nicht kennen, das anscheinend jedoch etwas mit den Afrikanern und sogar dem Baskischen zu tun hatte, das aber in jedem Fall automatisch das Recht auf die „wahre“ hispanische Identität beanspruchen sollte, aus der es erwachsen war. Die Iberer erlebten danach so tiefgreifende und viszerale Wendungen, daß sie gar einen so großen lateinischen Schriftsteller hervorbrachten wie Seneca (geboren in Córdoba). Alles wird noch komplizierter, wenn wir an Al Andalus' maurische Reiche denken, das größte und überwältigendste Beispiel für das Zusammenleben von Arabern, Juden und Christen. In der Kathedrale von Sevilla befindet sich das Grabmal des Heiligen Ferdinand, genannt der „große Herr des Zusammenlebens“. Ihm ist eine doppelte Inschrift auf Latein, Arabisch, Hebräisch und Spanisch gewidmet.

An Spanien haftet seit der Inquisition jüdisches Blut, wie auch am gesamten christlichen Europa. Diese finstere Zeit dürfte uns dennoch vergessen lassen, daß das hebräische Volk sich in Zeiten größerer Toleranz auf jenem iberischen Boden einen großen Respekt verschafft hatte und sein Blut sogar mit königlichem Blut vermischte. Ein Philologe von der Größe eines Menéndez Pelayo schrieb: „Der erste bekannte kastilische Poet ist vermutlich der ausgezeichnete Hebräer Yehuda Halevi, der erwiesenermaßen nicht nur in seiner eigenen, sondern auch in der arabischen und im Vulgat der Christen dichtete.“ Dieser um 1087 geborene Mann wurde als der größte Lyriker des Judaismus angesehen, aber er galt — wie sein Freund Moisés Ibn Ezra — wegen seiner ganz typisch kastilischen Ausdrucksweise als Andalusier.

Es gibt etwas noch Bedeutenderes: Das maurisch-judaische Kulturzentrum, Erbe der großen Kultur von Bagdad, bildete in Córdoba, der „Braut Andalusiens“, wie auch in anderen Städten desselben Reiches eine Brücke zwischen der hellenischen Kultur, die die Mohammedaner aus Kleinasien und Alexandrien mitgebracht hatten, und dem barbarischen Europa. Dabei darf man nicht die Übersetzerschule von Toledo vergessen, die im 12.Jahrhundert gegründet worden war. Der 1020 in Málaga geborene Avicebrón war ein Kenner der neoplatonischen Philosophie und übte solchen Einfluß auf San Buenaventura und den Franziskanerorden aus, daß diese mit Albert dem Großen und dem Heiligen Thomas von Aquin polemisierten. Und was den großen jüdischen Philosophen Maimonides betrifft: Geboren 1135 in Córdoba, war er vom Neoplatonismus beeinflußt und gelangte über Averroes, den größten arabischen Denker, zur aristotelischen Doktrin. Beide schlugen eine Brücke zwischen der griechischen Philosophie und dem barbarischen Europa, was in Bacon, dem Heiligen Thomas, Descartes, Spinoza und Kant seinen Höhepunkt erreichte. Was für eine kulturelle Identität!

Da all das von dem Problem der lateinamerikanischen Identität ausging, muß in jedem Fall daran erinnert werden, daß jene transzendente Phase der arabisch-judaischen Kultur die Mathematiker, Geografen, Astronomen hervorbrachte, die Christoph Kolumbus die Reise ermöglichten — er fast sicher ein Jude, wie auch drei der herausragenden Dichter unserer Sprache: Bruder Luis de León, der Heilige Juan de la Cruz und die Heilige Therese.

Denn so ist der Mensch

Ähnliches könnte man aus verschiedenen europäischen Religionen anführen. Enthauptung, Pest, Vergewaltigung und Folter waren dort an der Tagesordnung, denn so ist der Mensch: fähig zu den größten Wundertaten und widerlichsten Greueltaten, wie es Pascal mit anderen Worten sagte. Akzeptieren wir also die Geschichte so, wie sie ist, immer schmutzig und verworren; laufen wir nicht vermeintlichen Identitäten hinterher. Selbst die hellenischen Götter des Olymp, die angeblichen Archetypen der griechischen Identität, waren nicht makellos: Sie waren von ägyptischen und asiatischen Gottheiten durchsetzt.

Andererseits besteht die Geschichte aus Trug, Spitzfindigkeiten und Vergessen. Um nicht weit auszuholen: Ich entsinne mich nicht, welcher Gefangene in Erwartung der üblichen Enthauptung im unglückbringenden Tower von London saß und mit nachlassender Aufmerksamkeit die Geschichte Englands schrieb, bis er über die Knechte, die ihm seine spärliche Tagesration brachten, erfuhr, daß ein großer Kampf am Fuße seines Gefängnisses entbrannt war — Informationen, die sich so widersprüchlich darstellten, daß er sein Vorhaben aufgab, aus lauter Kopfzerbrechen über seine Unfähigkeit, herauszufinden, was sich dort unten eigentlich abgespielt hatte.

Der Autor ist argentinischer Schriftsteller. Dieser Text erschien zuerst in der chilenischen Zeitschrift 'Analisis‘. Übersetzung: Elke Krüger.