Recht auf Eigentum, Recht auf Leben

Der Krieg in El Salvador ist zu Ende. Nun muß sich das Land mit der Wurzel seiner sozialen Konflikte auseinandersetzen — der ungerechten Landverteilung  ■ AUS SAN
SALVADOR RALF LEONHARD

Von ihrem winzigen Stück Land bei Tejutepeque im Norden El Salvadors wurde Marta Vilma Escobar vor mehr als zehn Jahren vertrieben. Dabei zählten sie und ihre Familie noch zu den Glücklichen, die Oberst Sigifredo Ochoas schonungslosen Feldzug gegen die Guerilla im November 1981 überlebten.

Ochoa, der heute als respektierter Abgeordneter der regierenden ARENA im Parlament sitzt und als Direktor der Elektrizitätsgesellschaft eine der üppigsten Pfründe des Landes genießt, ließ damals Hunderte Bauern als Guerillasympathisanten niedermetzeln, Tausende flüchteten über die Grenze nach Honduras. Frau Escobar blieb im Lande. Sie konnte sich im Städtchen Aguilares am Fuße des Guazapa- Vulkans niederlassen. Auch von dort mußte sie später wieder fliehen: „Als es zu gefährlich wurde, ging ich für drei Monate nach San Salvador.“

Schließlich fand sie am Rande der Landstraße zwischen San Salvador und Aguilares ein Plätzchen auf einer staubigen Böschung. Auf einem Stück Land, das der Kirche gehört, hatten dort Vertriebene aus verschiedenen Landesteilen die Niederlassung Guaycume gegründet. Auf der anderen Seite der Landstraße verpachtete der Eigentümer des Viehbetriebs San Jose Anasola den Campesinos ein Stück Land. „Dort konnten wir ein bißchen Mais anbauen“, erzählt Marta Escobar.

Das Problem begann, als der Viehzüchter sich in einer dubiosen Wohnbauspekulation verhedderte und sein Grundstück im März 1990 versteigern lassen mußte. Denn die neue Gutsherrin, Ana Lilian Cabrera, kündigte die Pachtverträge und ließ ihr Vieh über die Felder trampeln, wenn es einer noch wagte, illegal anzubauen. Verhandlungen erwiesen sich als fruchtlos, auch als sich Auxiliarbischof Gregorio Rosa Chávez als Vermittler einschaltete. „Da faßten wir den Entschluß, den Grund zu besetzen“, berichtet Alonso Méndez, einer der Anführer. Das war im April 1991. Um die Anerkennung des Agrarministeriums zu erlangen und leichter an Kredite zu kommen, organisierten sich die rund achtzig Besetzer als Genossenschaft. Gleichzeitig wandten sie sich ratsuchend an den Landarbeiterverband ANTA, der Erfahrung mit Landbesetzungen hat.

Permanentes Provisorium

Die Mitglieder der Genossenschaft haben sich im Schatten des mächtigen Ceibabaumes zur Beratung versammelt. Der Vulkankegel des Guazapa ist durch vorgelagerte Hügel verdeckt. Die vor Hitze flimmernde Luft und der Staub, der von jedem Schritt aufgewirbelt wird, tun das ihre, um die Sicht zu behindern. Kein Gebäude, keine Agrarmaschine verrät, daß es sich hier um einen landwirtschaftlichen Betrieb handelt: ein permanentes Provisorium.

Das herumliegende Maisstroh, in dem Mäuse und kleine Vögel nach letzten Körnern suchen, erinnert daran, daß hier geerntet wurde. Etwas abseits führt eine schmale Bewässerungsrinne durch ein Beet mit Radieschen und Tomaten. Das Wasser muß vom Bach in Eimern in ein kleines Becken geschleppt werden. Auf dem 90 Hektar großen Grundstück hat jede Familie kaum mehr als einen Hektar für den Anbau. „Das reicht gerade zum Essen“, sagt einer, „Kleidung, Medizin und anderen Luxus können wir uns nicht leisten.“ Die zusammengeflickten Hosen, die mit einem Strick als Gürtel an den hageren Taillen festgehalten werden, die löchrigen Schuhe und die dezimierten Gebisse der Campesinos geben der Klage Glaubwürdigkeit.

Das Agrarproblem, der Zugang der Campesinos zum Land, ist das Schlüsselproblem El Salvadors. Großgrundbesitz ist ein Luxus, wo für sechs Millionen Einwohner nur 21.000 Quadratkilometer zur Verfügung stehen. Die zu Beginn der achtziger Jahre begonnene Agrarreform hat nur 22 Prozent der landlosen Bauern berücksichtigt. 250.000 Familien warten noch auf ein Stück Ackerland. Laut Statistiken des christdemokratischen Forschungsinstituts CENITEC sind 80 Prozent des fruchtbaren Landes in den Händen von nur 2.000 Familien konzentriert.

Auch das Friedensabkommen, das am 16. Januar in Mexiko unterzeichnet wurde und am 1. Februar in Kraft trat, sieht nur ansatzweise eine Lösung des Landproblems vor. „Die Regierung garantiert die Übertragung landwirtschaftlicher Güter, die noch nicht gemäß Artikel 105 und Artikel 267 der Verfassung übertragen worden sind“, heißt es da. Es handelt sich um die Latifundien von mehr als 245 Hektar, die eigentlich im Rahmen der Agrarreform schon vor zehn Jahren enteignet werden sollten. Gleichzeitig muß der Staat alle staatlichen Ländereien, sofern es sich nicht um Forstreserven handelt, zur Verteilung an ehemalige Soldaten und Guerilleros freigeben.

Beide Maßnahmen sind nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein, denn die wichtigsten Ländereien, die fruchtbaren, in den Händen der kleinen Oligarchie konzentrierten Kaffee-, Baumwoll- und Zuckerplantagen gelten mit 150 bis 245 Hektar als Mittelbesitz. Die zweite Phase der Agrarreform, die den Kleinbauern und Genossenschaften Zugang zu dieser Quelle des Reichtums verschaffen sollte, wurde nie umgesetzt: Ihre Verwirklichung ist ohne Verfassungsänderung gar nicht möglich, denn die von ARENA dominierte Konstituierende Nationalversammlung konnte 1984 die Eigentumsgarantie für Grundstücke bis 245 Hektar im Grundgesetz verankern.

Schon 1986 begannen einige der enteigneten Latifundisten gegen die Genossenschaften gerichtlich vorzugehen, und konnten einstweilige Verfügungen gegen eine Anzahl von Kooperativen erwirken. Das war noch unter der Regierung des Christdemokraten Napoleon Duarte. Als dann 1989 die von der Oligarchie gegründete ARENA an die Macht kam, begann ein systematisches Rollback der Agrarreform, die einst von US- amerikanischen Experten als Teil des Aufstandsbekämpfungsprogramms entworfen worden war. Parteigründer Roberto D'Aubuisson erschien höchstpersönlich in Begleitung von Schlägerbanden auf den Genossenschaften und setzte die Wahl regierungstreuer Bauern in den Vorstand durch.

Der neue Chef des Agrarreforminstituts (ISTA), selbst Großgrundbesitzer, förderte die Parzellierung des Genossenschaftslandes, um die Organisationen zu schwächen. Das war möglich, da das Land formal dem ISTA gehörte. Das Argument dafür war die geringe Produktivität der Genossenschaften, obwohl sogar die Statistiken des Agrarministeriums nachweisen, daß der Ertrag pro Hektar auf den Genossenschaftsländern über dem Landesdurchschnitt liegt. Tatsächlich gelang es, 20 Kooperativen der ersten Phase der Agrarreform zu parzellieren. Gleichzeitig wurde im Parlament ein Gesetz eingebracht, das die Rückgabe dieser Länder an die alten Besitzer legalisiert hätte.

„Damals beschlossen wir, uns zur Wehr zu setzen“, erzählt Carlos Rodriguez, der Vorsitzende der Landarbeitervereinigung ANTA. Die Bauern begannen eine Anzahl von Ländereien kurzerhand zu besetzen. Schließlich lagen damals nicht weniger als 47 Prozent der nicht von der Agrarreform betroffenen Ackerflächen brach. Es begann im Juli 1990 auf der Finca Los Limones am Coatepeque-See. Und im Laufe eines Jahres waren vier Dutzend Landgüter okkupiert und mit Grundnahrungsmitteln bebaut. Der Einsatz von Nationalgarde oder Armee zur Vertreibung der Bauern forderte mehrere Verletzte, war aber nur von begrenztem Erfolg begleitet: Die meisten Ländereien konnten verteidigt werden.

Am 3. Juli 1991 kamen die Anführer von ANTA schließlich zu einem Übereinkommen mit den Ministern für Landwirtschaft und für Verteidigung: Die Regierung versprach, sie würde gegen die Besetzer nicht weiter vorgehen, wenn ANTA sich verpflichtete, keine weiteren Besetzungen zu fördern.

Doch der Druck der Basis konnte nicht gebremst werden. Schließlich lebt jeder dritte Salvadorianer in extremer Armut — das heißt, er kann nicht einmal seine elementarsten Bedürfnisse befriedigen. Auf dem Land vegetieren sogar 60 Prozent unter der Armutsgrenze. Kaum war die Tinte unter dem Dokument getrocknet, schossen daher neue Bauernorganisationen aus dem Boden, die sich durch die Unterschrift von ANTA nicht gebunden fühlten. Die Landarbeiterzentrale (CTC) wurde sogar von ehemaligen ANTA-Mitgliedern gegründet.

Als die Serie von Landbesetzungen nicht abreißen wollte, kündigte auch die Regierung das Abkommen auf. Zusammenstöße zwischen Bauern und Militärs wurden zum Alltagsgeschehen. „Wenn die Regierung diesem Land wirklich Entwicklung bringen will, dann soll sie das Land denen geben, die es bearbeiten“, meint Carlos Rodriguez kategorisch, „außerdem soll sie Kredite und technische Beratung bereitstellen.“

Eigenbedarf oder Export?

Der Grundnahrungsmittelanbau wird in El Salvador praktisch nicht gefördert. Während 1989 mehr als 70 Prozent aller Landwirtschaftskredite für die Exportprodukte Kaffee, Baumwolle und Rindfleisch bereitgestellt wurden, blieben für Getreide- und Bohnenanbau weniger als vier Prozent des Kreditvolumens.

Die Landbesetzungen wurden natürlich auch im Dialog zwischen Regierung und der „Befreiungsfront Farabundo Marti“ (FMLN) zum Thema. Doch das einzige, was die Verhandlungsführer der Guerilla bei den zähen Gesprächen in Mexiko und New York schließlich durchsetzen konnten, war eine Art Moratorium für die Lösung der Landkonflikte im Guerillagebiet. Dort hat die verbliebene oder neu angesiedelte Zivilbevölkerung für den Eigenbedarf und die Kämpfer der Befreiungsbewegung Grundnahrungsmittel angebaut.

Mit den Eigentümern dieser Grundstücke, von denen viele sich ins Ausland abgesetzt haben oder in den Städten leben, muß mittelfristig eine Lösung ausgehandelt werden, bei der die Regierung Hilfestellung versprach. Für die mächtige Oligarchie, die mit Kaffee- und Baumwollexport zu Reichtum gekommen ist, sind die kargen Böden im Bergland wenig interessant.

Das fruchtbare Land liegt in der Pazifikebene, wo die Guerilleros kaum Fuß fassen konnten oder in den letzten Monaten zurückgedrängt wurden. Dort sind die halbfeudalen Strukturen der Agrarproduktion noch intakt. Auf den Kaffeeplantagen, denen auch Präsident Cristiani seinen Reichtum verdankt, auf den Rinderfarmen und Zuckerbetrieben leben die Landarbeiter vielfach noch wie Leibeigene. Fälle von Aufbegehren wurden dort traditionell durch den Einsatz von Todesschwadronen gelöst.

„Mit der ganzen Kraft des Gesetzes“

Auch jetzt wird in diesen Zonen nicht lange gefackelt. Als am 28. Januar rund 150 Campesinos die Hacienda La Concordia im Süden des Departements Usulutan, rund 100 Kilometer östlich von San Salvador besetzten, erwirkte der Eigentümer René Samour in Windeseile einen Räumungsbeschluß des zuständigen Gerichts und schickte die Nationalgarde und Einheiten der 6. Infanteriebrigade. Bei der gewaltsamen Räumung wurde der 21jährige Campesino Porfirio Márquez im Gesicht gefährlich verletzt. Ein Kontingent von ONUSAL, der Beobachter der Vereinten Nationen, kam erst nach der Aktion an den Ort des Geschehens. Nur wenige Kilometer entfernt kam es zu Zusammenstößen zwischen der Nationalgarde und Landarbeitern, die eine Saline besetzt hatten.

In den Medien läuft seit Wochen ein Spot der Regierung, der allen illegalen Besetzern „mit der ganzen Kraft des Gesetzes“ droht. In Regierungskreisen spricht man von einer Welle neuer Okkupationen seit Beginn des Waffenstillstands am 1. Februar. Präsident Cristiani sprach zuletzt von über 260 Landbesetzungen, ging aber nicht so weit, die FMLN dafür direkt verantwortlich zu machen. In Wahrheit dürfte hinter dieser aufgeblähten Zahl mehr Propaganda als Wirklichkeit stecken. „Wir haben zahllose Warnungen ergehen lassen, sich nicht von den Agitatoren manipulieren zu lassen, die gewaltsam Ländereien besetzen wollen“, erklärte der Staatschef kategorisch, „wir haben uns vorbehalten, das Gesetz gegen jene Leute anzuwenden. In unserem Land muß das Eigentum gesichert werden.“

Für die regierende ARENA geht es um die Wahrung des heiligen Rechtes auf Eigentum, während die Linke eine Lösung des Agrarproblems im Namen des Rechts auf Leben fordert. Diese gegensätzlichen Positionen sind in den letzten Wochen im sogenannten „Sozio-ökonomischen Konzertierungsforum“ aufeinandergeprallt. Dort haben Regierung, Unternehmer und Gewerkschaften die dringendsten Wirtschaftsprobleme des Landes diskutiert und eine Art Sozialpakt gesucht, der die wirtschaftliche Wiederbelebung erlaubt.

Die FMLN, das geht aus internen Diskussionspapieren hervor, will sich über die Kontrolle landwirtschaftlich produktiver Flächen eine ökonomische Grundlage verschaffen, die ihr die Entwicklung einer konkurrenzfähigen Partei erlaubt. Gleichzeitig ist sie den Hundertausenden landlosen Bauern verpflichtet, die sich von der Befreiungsbewegung den Einsatz für ihre Anliegen erwarten. Dennoch wird die FMLN, so haben mehrere Comandantes versichert, keine Besetzungen provozieren. Es wird die Verhandlungslösung vorgezogen.

In San José Anasola sind die Bauern optimistisch, daß ihre Situation legalisiert wird. Ihr Grundstück liegt im Konfliktgebiet und ist daher vom Friedensabkommen gedeckt. Doch um die fruchtbaren Flächen, die von den Latifundisten aus Spekulationsgründen nicht bebaut werden, wird mit Sicherheit ein heftiger Konflikt beginnen. Die Großgrundbesitzer werden sich wohl auf grundsätzliche Verhandlungen einlassen müssen. Denn ihre traditionellen Erfüllungsgehilfen — käufliche Richter und Militärs — werden ihnen nicht mehr im bisherigen Maße dienen können: das korrupte Justizsystem, so sieht es das Friedensabkommen vor, wird gründlich reformiert, und die Armee darf seit 1. Februar nicht mehr zur inneren Repression herangezogen werden.