Schuß — Gegenschuß

■ Zwei Dokumentarfilme bei den »Jüdischen Lebenswelten«

Noch bis zum 22. April zeigt das Arsenal im Kinosaal des Martin-Gropius-Baus mittwochs bis sonntags um 17 Uhr und um 20 Uhr jüdische Filme aus verschiedenen Ländern. Ein Teil der Filme wird im Arsenal wiederholt. Jeden Mittwoch stellen wir hier eine Auswahl vor.

Im Gegensatz zur Berichterstattung über den Golfkrieg auf CNN ist das Filmmaterial über die Judenvernichtung nicht per Knopfdruck zu haben — die Opfer hatten in der Regel keine Kameras, und die Bilder der Täter ruhen in Giftschränken. Spricht etwas dagegen, sie in neuen Filmen zu verarbeiten?

Was hat der SS-Mann mit der Kamera geschossen? Da waren zum einen die pseudowissenschaftlichen Dokumentationen: Fotos, die Mengele von »seinen« Zwillingen anfertigen ließ, Porträts der Häftlinge von allen Seiten (oft das einzige, was Angehörigen heute geblieben ist), Propagandamaterial zur Beschönigung der Zustände in Theresienstadt bei der Landarbeit, beim Nähen, beim Sporttreiben für die Wochenschau- Bilder, von Massenaufzügen. Dann aber gibt es diejenigen Aufnahmen, bei denen der Amateurfilmer seinem Voyeurismus freien Lauf läßt. Man spürt das Gemisch aus sardonischer Freude und lustvollem Gruseln, das die Kamera führte.

Die zwei Dokumentarfilme, die diese Woche zu sehen sind, benutzen gerade dieses Material — ein höchst prekäres Unterfangen. Gerade im Kontrast zu den Spielfilmen werfen sie die Frage auf, welche mediale Ästhetik eigentlich zur Darstellung der Judenvernichtung angemessen ist: Schauspiel oder Interview, Einfühlung oder Vorstellung, Bild oder Ton, Erzählung oder »Fakt«, »Täterbilder« oder »Opferbilder«. Die Filme vollbringen das Kunstwerk, beides in einem zu finden.

The 81st Blow (Der 81. Schlag, Israel/Frankreich, 1975) ist ein filmischer Tanz auf dem Drahtseil: Es werden fast nur Filmaufnahmen aus Nazi-Archiven verwandt, und zwar ohne ein Wort des Kommentars, über weite Strecken überhaupt völlig stumm. Wer sich dennoch von der Haltung, aus der diese Bilder entstanden sind, distanzieren will, muß sich völlig auf die Montage verlassen, auf diejenige Kunst also, die den Realisten der Filmtheorie schon immer der größte Frevel war. In schneller Folge wird Hitler aus verschiedenen Kamerawinkeln am Rednerpult gezeigt: wie er zwischen den großen Satzwellen nach Luft schnappt, mit dem Kinn die Luft zerhackt, mit den Händen säbelt, Kinderköpfe streichelt und einmal sogar direkt in die Kamera lächelt — wenn man das ohne Ton sieht, meint man plötzlich, für eine Schrecksekunde, mit ihm allein zu sein.

Dann folgen wogende Massen, Meere aus Armen, die mal nach links, mal nach rechts wogen, Stiefel, Beinschwünge, eine Druckerpresse spuckt den 'Völkischen Beobachter‘ aus. Das wirkt wie ein Ballet mechanique, eine Choreographie zu Theweleits Männerphantasien, auch ein wenig wie eine abstrakte Bauhaus-Grafik.

Der Film will nicht den billigen Weg der Denunziation der Nazis gehen — die Nazis als dumpfe Masse—, sondern spürt mittels der Verdichtung von Wochenschau-Material die Ästhetik dieser Bilder auf, eine Art Destillationsprozeß.

Auf Dutzenden Bildern von brennenden Synagogen des Novemberpogroms, denen die pyromanische Ehrfurcht vor dem Backdraft, der Erhabenheit des Feuers anzusehen ist, folgen Bilder aus dem Osten. Der Weg der Deportierten wird vom Film nachgezeichnet. Juden mit Sternen vorn und hinten schleppen Möbel durch Gespensterstädte, werden von der Polizei kontrolliert, an Bärten gerissen, aufgehängt, mit Wasser vollgeschüttet bis sie platzen, nackte Frauen neben lachenden, grabschenden SS-Männern, die Kamera schwankend im voyeuristischen Taumel.

Die ästhetische Klammer zum Anfang des Films, den Nazi-Massen, wird mit Bildern von den Massen auf der anderen Seite geschlossen: Massen von Schuhen, Kleidern, Haaren, Bürsten, Rasierpinseln, Ausweisen, Namenslisten — Elemente der Zivilisation im Meer der Barbarei.

Hier retten nur die Stimmen aus dem Off den Film vor völligem Fatalismus: Zeugenaussagen von Überlebenden aus dem Eichmann-Prozeß in Jerusalem 1961 entwenden die Bilder gewissermaßen ihren Produzenten, ziehen einzelne Namen, Lebensläufe und Episoden aus den unendlichen Listen, Bergen und Meeren der faschistischen Kinematographie wieder heraus. Welcher Spielfilm hätte je einen solchen Prozeß durchlaufen? (Zu sehen am Samstag, 21.3., um 17 Uhr.)

Die Dekonstruktion von Filmpropaganda der Nazis ist auch das Strukturprinzip von Dan Weissmans Terezin Diary (USA 1989). Aufnahmen aus dem Film Der Führer schenkt den Juden eine Stadt, der im Sommer 1944 entstand, werden mit Interviews, Fotos und geheimen Archivaufnahmen konfrontiert. Das Konzentrationslager Theresienstadt war ja wie der Propagandafilm dazu gedacht, das Ausland zu beruhigen. Man steckte die Lagerinsassen in bunte Kleider, ließ sie Schach spielen, singen, tanzen, schauspielern und musizieren.

Die Kommission des Roten Kreuzes, die das Lager inspizierte, ließ sich auch prompt und gern auf den Schwindel ein. Als man die Lagerinsassen nicht mehr zum Vorzeigen brauchte, wurden sie nach Auschwitz deportiert.

Wahrheit und Lüge, auch der Selbstbetrug der Insassen, sind das Thema dieses Films. Er besteht darauf, daß sich Zelluloid nicht betrügen läßt: Indem er einzelne Aufnahmen des Propagandafilms in Zeitlupe und mit Wiederholungen zeigt, entdeckt er den Schrecken hinter dem erzwungenen Lächeln der Lehrerin, die Angst in den Gesichtern der Kinder, als sie an einem offenen Fenster im Sonnenschein vorbeimarschieren (Sonntag, 17 Uhr). Mariam Niroumand