Revolution in Berlin — ein Zufall?

■ Vor 144 Jahren versuchten Bürger und Arbeiter, aus Berlin eine demokratische Hochburg zu machen

Wir danken an dieser Stelle unserem Autor Jürgen Karwelat für die Erinnerung an die unten beschriebenen Ereignisse, die sich ohne seine Hilfe auch in unserer Redaktion nicht eingestellt hätte. Wir warten derweil auf weitere Überfälle dieser Art.

Es gibt nicht viele Ereignisse in der deutschen Geschichte, bei denen sich explosionsartig das Neue, das Bessere durchgesetzt hat. Der 18. März 1848 war ein solcher Tag.

An diesem Tag besiegten in Berlin die Arbeiter und Bürger im Straßen- und Barrikadenkampf die Truppen des preußischen Königs. Beflügelt von den Meldungen über die Februar-Revolution in Paris und die Revolution in Wien, forderten auch die Berliner Bürger ihre Rechte ein. Am 13. März 1848 versammelten sich etwa zehntausend Personen »In den Zelten« vor dem Brandenburger Tor. Ihre Forderungen waren:

1.Unbedingte Preßfreiheit.

2.Vollständige Redefreiheit.

3.Sofortige und vollständige Amnestie aller wegen politischer und Preßvergehen Verurtheilten und Verfolgten.

4.Freies Versammlungs- und Vereinigungs-Recht.

5.Gleiche politische Berechtigung Aller, ohne Rücksicht auf religiöse Bekenntnisse oder Besitz.

6.Geschwornen-Gericht und Unabhängigkeit des Richterstandes.

7.Verminderung des stehenden Heeres und Volksbewaffnung mit freier Wahl der Führer.

8.Allgemeine deutsche Volksvertretung.

9.Schleunige Einberufung des Vereinigten Landtages (= Ständevertretung).

Radikalere Wünsche wie die »Garantie der Arbeit« wurden von der Versammlung abgelehnt.

Als der preußische König nicht auf die Forderungen einging, steigerte sich die Unruhe in den nächsten Tagen. Das Militär griff die Menschenaufläufe an. Die ersten Toten steigerten die Wut der Bürger. Für den 18. März wurde eine Kundgebung vor dem Schloß organisiert, um dem König den Forderungskatalog zu überreichen. Inzwischen waren weitere Forderungen wie der Rückzug des Militärs aus der Stadt und die Einrichtung einer Bürgerwehr hinzugekommen. Allgemein wurde der große Knall erwartet, doch Friedrich Wilhelm IV. lenkte ein und versprach die Erfüllung der Forderungen, so daß aus der Protestdemonstration eine Jubelveranstaltung zu werden schien. Zehntausende drängten sich vor dem Schloß. Dann fielen plötzlich — aus den Reihen des Militärs — zwei Schüsse. Ob unbeabsichtigt oder gezielt, die Schüsse waren das Signal für den Verrat des Militärs. Die Stimmung schlug um. Innerhalb kürzester Zeit errichteten Bürger und Arbeiter in der ganzen Stadt Barrikaden. Steine flogen, Schüsse fielen. Einen Tag lang wurde gekämpft — in einem schweren und ungleichen Kampf. Eine zum größten Teil waffenlose, völlig undisziplinierte und unorganisierte Volksmenge glaubte einem geübten Heer von vierzehntausend Mann widerstehen zu können. Und es gelang ihnen. Zweihundert Arbeiter und Bürger ließen dabei ihr Leben. Am 19. März lenkte der König ein und zog das Militär zurück.

Am 20. März öffnete das Volk von Berlin die Gefängnistore, und aus dem Zellengefängnis in Moabit wurden politische Gefangene befreit. Es waren Polen, Mitglieder des »Polnisch-demokratischen Vereins« aus der Provinz Posen, die wegen Vorbereitung einer Revolution verurteilt worden waren. Der Revolutionschronist Adolf Wolff beschrieb die Szene so: »Gegen 1 Uhr erschien der Staatsanwalt, Hr. Wentzel im Staatsgefängnisse und zeigte den polnischen Gefangenen in einer feierlichen Anrede die Befreiung an. Ein bereit gehaltener Wagen nahm hierauf die beiden bedeutendsten Gefangenen, Ludwig v. Mieroslawski, der zum Tode, und Dr. Libelt, der zu vieljähriger Festungsstrafe verurtheilt war, so wie die im Gefängnisse anwesenden Damen v. Malczewska u. Matecka nebst ihren Kindern auf. Der Jubel der stark angeschwollenen Menge empfing die Befreiten. Die Pferde wurden vom Wagen gespannt und Menschenhände zogen denselben. Ihm folgten die sämmtlich entlassenen Polen zu Fuß und mit entblößtem Haupte. Hr. v. Mieroslawski hielt eine deutsche Fahne; eine polnische Flagge, im Augenblicke der Befreiung von Damen im Gefängnisse gefertigt, wehete von dem Wagen. Auf dem ganzen Wege, durch das neue Thor, die Louisenstraße, Friedrichstraße, Linden, flatterten aus allen Fenstern Tücher und Fahnen, flogen Blumenkränze den Befreiten zu. Eine unermeßliche Volksmenge folgte dem Zuge.«

Einhundertvierundachtzig von den zweihundert getöteten Barrikadenkämpfern wurden am 22. März im Friedrichshain feierlich beerdigt. Fast die gesamte Bevölkerung von Berlin war dabei. Der Trauerzug dauerte vier Stunden. Als er am Schloß vorbeiging, trotzten die Revolutionäre dem König ab, den Toten, die er wenige Tage zuvor noch als »Rotte von Bösewichtern, meist aus Fremden bestehend« bezeichnet hatte, seine Ehre zu erweisen. Er verneigte sich mit entblößtem Haupt vor den Särgen.

Die Revolution hatte zwar in Berlin gesiegt, doch es gelang in den kommenden Wochen und Monaten der Reaktion, Schritt für Schritt die Umsetzung der Revolutionsziele rückgängig zu machen oder zu behindern.

Schuld daran war nicht nur der mächtige Gegner, es waren auch die Widersprüche zwischen den beiden Gruppen, die an der Revolution beteiligt waren: die Bürger und die Arbeiter. Spätestens im Oktober 1848, als die Bürgerwehr am Luisenstädtischen Kanal zwölf streikende Arbeiter erschoß, war das Schicksal der Berliner Revolution besiegelt. Jürgen Karwelat