Das goldene Zeitalter der spanischen Juden

Die Vertreibung aus Spanien vor 500 Jahren machte einer Epoche der Toleranz und geistigen Blüte ein Ende  ■ Aus Madrid Antje Bauer

„Durch diesen Brief befehlen wir allen Juden und Jüdinnen gleich welchen Alters, die in unseren Königreichen und Fürstentümern leben und wohnen, daß sie bis Ende des kommenden Monats Juli zusammen mit ihren Söhnen und Töchtern, Knechten und Mägden und jüdischen Angehörigen, klein oder groß oder welchen Alters auch immer alle besagten Königreiche und Fürstentümer verlassen. Und daß sie es nicht wagen, dahin zurückzukehren oder dort zu sein (...) bei Todesstrafe und Konfiszierung aller ihrer Güter.“

Dieses Edikt unterzeichnete König Ferdinand von Aragon gemeinsam mit seiner Gattin Isabella von Kastilien am 31.März 1492 — vor nunmehr 500 Jahren. 100.000 Juden kamen der Aufforderung nach und flüchteten aus Spanien. Damit ging eine Epoche definitiv zuende, in der Toleranz und intellektuelle Lebendigkeit zu einer unwiederholten Blüte geführt hatten.

Ein halbes Jahrtausend friedlicher Ackerbau

Wann sich Juden in Spanien ansiedelten, ist etwas unklar. Wahrscheinlich zogen sie nach der Zerstörung des Zweiten Jerusalemer Tempels im 1.Jahrhundert unserer Zeit auf die iberische Halbinsel. Unter der Herrschaft des Römischen Reiches und später der Westgoten konnten sie weitgehend ungestört dem Ackerbau nachgehen, bis 586 der westgotische König Rekaredo zum Katholizismus übertrat und von da an die Juden schikanierte.

Kein Wunder, daß die Araber, die 711 das Land eroberten, von den Juden erfreut begrüßt wurden. Unter der arabischen Herrschaft, die sich in Cordoba festsetzte, genossen sie religiöse Freiheiten und gleiche Rechte wie die übrige Bevölkerung. Aus Nordafrika wanderten zahlreiche jüdische Familien in „AlAndalus“, dem von den Arabern beherrschten Spanien, ein, so daß um das 10.Jahrhundert auf der iberischen Halbinsel die größte jüdische Bevölkerung ganz Europas lebte.

Die jüdische Landbevölkerung urbanisierte sich schnell. Unter der arabischen Herrschaft gingen die staatliche Verwaltung und der Handel zunehmend in ihre Hände über, sie entwickelten ein ausgeprägtes Bürgertum. Im 10. und 11.Jahrhundert, unter dem Kalifat von Cordoba, erlebten die Juden eine Blütezeit in AlAndalus. Die Rabbinerschulen in Cordoba und Lucena waren bestimmend für Juden in der ganzen Welt, Juden waren Minister der moslemischen Monarchen und Mittler zwischen den arabischen Herrschern und den spanischen Einwohnern. Das änderte sich jedoch, als die Almorawiden und später die Almohaden an die Macht kamen, beides arabische Dynastien, die sich durch religiöse Intoleranz und Strenge auszeichneten. Aufgefordert, sich zum Islam zu bekehren, flohen viele Juden ins Ausland. Die Mehrzahl jedoch wanderte nordwärts, in die christlichen Königreiche Kastilien, Aragon und Navarra, wo sie mit offenen Armen empfangen wurden.

Händler, Steuereintreiber und Geldverleiher

Die neuen Herren machten sich die Fertigkeiten der Juden zunutze. Die Reconquista, die Eroberung der Halbinsel von den Arabern, ging voran, und die eingenommenen Gebiete mußten neu besiedelt und verwaltet werden. Für beides eigneten sich die neu angekommenen Juden vortrefflich. Im 13.Jahrhundert erlebten die Juden — diesmal im christlichen Spanien — eine erneute Blüte. Ihre Verwaltungskenntnisse, die sie aus AlAndalus mitgebracht hatten, brachten ihnen Schlüsselposten in den Königreichen ein. Als Händler, Steuereintreiber und Geldverleiher — ein Beruf, der Christen verboten war — kamen viele von ihnen zu Wohlstand. Zumindest die ersten Generationen der ins Christenreich geflohenen Juden sprachen im Alltag arabisch und lernten erst mit den Jahren kastellanisch. Das Hebräische war dem Kultus vorbehalten. Sowohl ihre Bildung als auch diese Arabischkenntnisse machten sie zu Brücken zwischen der hochentwickelten arabischen Kultur und dem rückständigen Europa. Berühmt wurde die Übersetzerschule von Toledo, in der Juden und Christen gemeinsam Texte aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzten. Solche Schulen gab es auch an anderen Orten. Philosophie, Dichtkunst, Medizin und Astrologie, die sich die Juden im Umgang mit den Arabern angeeignet hatten, wurden in dieser Zeit fortentwickelt und über Spanien nach Europa getragen. Der wohl berühmteste dieser jüdischen Intellektuellen ist der Arzt, Mathematiker und Talmudausleger Maimonides, der 1135 in Cordoba geboren wurde und 1204 in Ägypten starb.

Juden waren immer „die anderen“

Die jüdischen Gemeinschaften lebten gewöhnlich in eigenen Stadtvierteln. Sie unterstanden direkt dem Thron und nicht dem jeweiligen Feudalherren. Jede Gemeinschaft hatte eine eigene Institution, die Aljama, die die Regeln des Zusammenlebens festlegte und bei Streitigkeiten — nach jüdischen Gesetzen — richtete. Selbst die Todesstrafe konnten die jüdischen Institutionen aussprechen.

Doch auch in dieser Zeit der Blüte und Toleranz waren die Juden immer „die anderen“. In manchen Regionen wurden sie gezwungen, Erkennungsmerkmale zu tragen, Mischheiraten wurden verboten, schließlich durften sie in bestimmten Regionen keine öffentlichen Ämter mehr bekleiden. Die privilegierte Stellung einiger sowie die Ausübung von unpopulären Berufen wie Steuereintreiber und Geldverleiher machte sie gleichzeitig zum Ziel wachsender Ablehnung, die durch ständiges Hetzen der katholischen Kirche unterstützt wurde. 1391 griff der Pöbel das Judenviertel in Sevilla an und zerstörte es, die Pogrome breiteten sich wie ein Lauffeuer auf ganz Spanien aus. Zahlreiche Judenviertel wurden zerstört, manche, wie das von Barcelona, nie wieder aufgebaut. Viele Juden flüchteten. Viele andere bekehrten sich zum Christentum.

Die Konvertierung, obwohl in vielen Fällen aus Überzeugung, geschah doch meistens aus Angst vor Verfolgung und Diskriminierung. Sie brachte die Konvertiten in eine schwierige Lage. War schon der offizielle Übertritt zu einem anderen Glauben ein Frevel, so mußten zumindest die zahlreichen Gebote, die das jüdische Leben regelten, so gut es ging, weiterhin eingehalten werden. Ohne daß die Nachbarn aufmerksam würden, mußte versucht werden, die Sabbatruhe einzuhalten, nur koscheres Fleisch zu essen, die jüdischen Festtage zu begehen... Die Geheimhaltung der jüdischen Riten war insofern von größter Wichtigkeit, als Königin Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon seit Mitte des 15.Jahrhunderts im Namen des katholischen Glaubens einen Eroberungsfeldzug gegen die Mauren in Spanien führten. Auf dem Weg zu einem einzigen, katholischen Staat wurden die Juden zunehmend diskriminiert. Die besondere Aufmerksamkeit der Obrigkeit galt jedoch den „Judaisierenden“, den zum Christentum konvertierten Juden, die heimlich ihrem alten Kult huldigten. Als sich um 1480 die Inquisition in Spanien einnistete, wurden diese „Häretiker“ zum Ziel ihrer Verfolgung. Die Inquisition als staatliches Kontrollinstrument, die mit den Jahren außer den „falschen Christen“ auch Protestanten, Verrückte und Hexen auf den Scheiterhaufen brachte, spielte ein fundamentale Rolle in der Homogenisierung des Staates. Ihr oberster Herr in Spanien war Tomas de Torquemada, Dominikaner und Beichtvater von Isabella der Katholischen, deren Seligsprechung im Vatikan zur Zeit auf Eis liegt.

Das Edikt, das 1492 die Ausweisung aller Juden aus Spanien anordnete, war somit nur der Gipfelpunkt von Jahren der Verfolgung. Durch die Ausweisung der Juden sollten die „neuen Christen“ vor Versuchungen der Häresie bewahrt und gleichzeitig Spanien zu einer katholischen Nation werden. Das bis dahin blühende Land versank in den kommenden Jahrhunderten in einem Wahn von religiösem Fanatismus, Austerität und intellektueller Dürre, von dem es sich heute noch nicht gänzlich erholt hat. Seine Juden verteilten sich auf die Welt. Außer dem Osmanischen Reich, wo sie die beste Aufnahme fanden, wurden sowohl zahlreiche europäische Länder als auch das nahegelegene Nordafrika Ziel der Vertriebenen. Die Sefardis, wie sich die Juden aus „Sefarad“, Spanien, von da an nannten, behielten über Jahrhunderte auch in der neuen Heimat die alten Bräuche und die alte Sprache, das „Jüdisch-Spanische“ bei, ein mittelalterliches Spanisch, das noch heute viele Sefardis beherrschen. Auch diese neue Heimat war nicht überall von Dauer. Die größte sefardische Gemeinde überhaupt, die in Saloniki, wurde von den Nazis weitgehend ausgelöscht (siehe Interview S.18). In Marokko, wo 1948 noch 285.000 Sefardis gelebt haben sollen, sind nach der Entkolonisierung und gleichzeitigen Arabisierung heute weniger als 20.000 übrig — die anderen sind ausgewandert. Viele sind in die Neue Welt gezogen. Andere, aus Gründen kultureller Nähe, nach Frankreich. Viele nach Israel. Einige kehrten, nach fast 500 Jahren, ins Land ihrer Vorfahren, nach Spanien zurück. Zwar ist das Edikt der Katholischen Könige nicht offiziell widerrufen, doch das nationalkatholische Spanien unter Franco duldete sie, und seit der demokratischen Verfassung gilt Religionsfreiheit im Land. Meist leben die jüdischen Gemeinschaften recht zurückgezogen und auf sich selbst konzentriert. Auch der 500. Jahrestag des Edikts hat nur wenige Aktivitäten seitens der spanischen Sefardis erzeugt. Die Spanier haben diese Geschichte vergessen. Und die Sefardis wollen sich vermutlich nicht unnötig unbeliebt machen. Selbst in der angeblich so goldenen Zeit der drei Religionen haben sie immer zwischen den Stühlen gesessen, waren immer die anderen. Heute wollen sie offensichtlich nicht mehr anders sein.