EUROFACETTEN
: Keine sterilen Forderungen

■ Edikt der Vertreibung ist de facto widerrufen

Vierzehnhundertzweiundneunzig! Ein unseliges Jahr, das sich tief in das kollektive Bewußtsein des jüdischen Volkes eingegraben hat. Wenn man eine Gruppe gleichwelcher Herkunft und Alters bitten würde, die vier oder fünf Ereignisse aufzuzählen, die in der Geschichte ihres Volkes am bedeutendsten waren, so würde die Vertreibung der Juden ohne jeden Zweifel auftauchen, ebenso wie die Zerstörung des zweiten Tempels durch Titus im Jahre 70.

Was sind die Gründe dafür? Man kann nicht sagen, daß die Geschichte des jüdischen Volkes eben arm an traurigen Ereignissen wäre, daß die Juden im Laufe ihres langen diasporischen Lebenswegs nicht aus zahlreichen Ländern ausgewiesen worden sind. Doch in Spanien erreichten ihre Kultur und Zivilisation ihre größte Blüte, und deshalb ist die Spur dieses goldenen Zeitalters in der jüdischen Seele unauslöschlich.

Aufgrund des erdrückenden Gewichts von Jahrhunderten der Intoleranz dauerte es lange, bis Spanien den Pluralismus in allen Bereichen zuließ. Erst seit vierzig Jahren, und zunächst sehr zögerlich, konnten sich hier wieder jüdische Gemeinschaften aufbauen, und sie erhielten erst 1967 ein begrenztes Gesetzesstatut. Die demokratische Verfassung von 1978, das Gesetz über die Religionsfreiheit aus dem Jahr 1980 und das Kooperationsabkommen zwischen dem Staat und der Vereinigung der jüdischen Gemeinschaften, das bald vom Parlament ratifiziert werden wird, haben die Rechte der Juden in Spanien und ihre Integration in die Gesellschaft voll wiederhergestellt. Doch aufgrund der vorherigen Beschränkungen hat die spanische jüdische Gemeinschaft nur 15.000 Mitglieder. Es geht für sie nicht um sterile Forderungen. Es wird davon ausgegangen, daß das Vertreibungsedikt durch die Verfassung der Ersten Republik 1869 außer Kraft gesetzt wurde. Es geht nun vielmehr darum, den Platz in der Gesellschaft zu fordern, der den Juden zusteht. Das heutige moderne und demokratische Spanien steht zu seiner Vergangenheit, denn die Geschichte kann man nicht verändern. Jedoch ist es fest entschlossen, die neu begonnene Etappe des Zusammenlebens und des Wiederfindens mit den Nachfahren derer, die es damals verlassen mußten, fortzuführen. Hierin besteht die Herausforderung dieses symbolischen Jahres 1992: die Schatten zu überwinden und die Lichtseiten der Vergangenheit herauszustellen, um gemeinsam eine hoffnungserweckende Zukunft zu schaffen. Samuel Toledano

Der Autor ist Generalsekretär der Vereinigung der Israelitischen Gemeinschaften in Spanien