: Die Hufspur führt nach Holland
■ Seit über einem Jahr fahren unbekannte Viehdiebe in dunkler Nacht durchs Brandenburgische und klauen aus großen Ställen systematisch alles, was vier Beine hat. Viele landwirtschaftliche Genossenschaften...
Die Hufspur führt nach Holland Seit über einem Jahr fahren unbekannte Viehdiebe in dunkler Nacht durchs Brandenburgische und klauen aus großen Ställen systematisch alles, was vier Beine hat. Viele landwirtschaftliche Genossenschaften treibt das Kuhnapping möglicherweise in den Ruin. Die eigens für die Ermittlungen installierte „Soko Weide“ hat jetzt eine heiße Spur.
VON CLAUS CHRISTIAN MALZAHN
Vor zwei Wochen war Kriminaloberrat Albrecht mal wieder im Kino. Allerdings nicht, um sich nach erfolgreicher Verbrecherjagd vor der Leinwand zu erholen. Jürgen Albrecht, Anfang 50, war dienstlich unterwegs, denn der Plot des Films hatte mit seinem neuen Fall zu tun. Er hat sich Karniggels angeguckt, eine Komödie über rätselhafte Kuhmorde in Schleswig- Holstein. „Ganz witzig“ fand der Beamte den Streifen. Doch neue Erkenntnisse über Motivation und Psyche der Verbrecher, die er zur Zeit im Bundesland Brandenburg jagt, brachte ihm der Spielfilm „leider nicht“.
Jürgen Albrecht ermittelt gegen unbekannte Viehdiebe. Skrupellose Profis, die seit über einem Jahr nachts durch Brandenburgs Dörfer fahren, vor großen Ställen von Genossenschaften halten und alles in ihre Transporter treiben, was vier Beine hat: schwarzbunte Kühe, schlachtreife Bullen, gemästete Schweine, unschuldige Kälber. Über 500 Tiere verschwanden auf diese Weise in den vergangenen 14 Monaten aus Brandenburgs Viehboxen, der Schaden beläuft sich mittlerweile auf über 700.000 Mark. „Eigentlich nicht viel Geld“, meint Albrecht. Früher, als er noch Chef der Abteilung „Wirtschaftsverbrechen“ beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden war, hatte er es mit ganz anderen Summen zu tun: Da suchte er nach verschwundenen Millionen bei VW, beschäftigte sich mit Korruptionsdelikten bei coop. Um neunstellige Beträge ging es damals. Doch die Bevölkerung, so Albrecht, habe diese Millionenskandale nur am Rande interessiert.
Das ist jetzt anders: „So eine Verunsicherung bei den Leuten hab' ich noch nie erlebt!“ Für einen Bauern, dem 30 Kühe aus dem Stall geklaut wurden, bleibt oft nur der Weg zum Konkursrichter: Ihm fehlen dann 30.000 Mark, die er in diesen Zeiten bitter nötig hat. Der aus Brandenburg stammende Viehzüchter Otto Kemper, dem 43 Bullen geklaut wurden: „Wenn die Polizei meine Tiere nicht wiederfindet, muß ich meinen Hof verkaufen!“ Kempers Bullen waren nicht versichert. Für teure Diebstahlversicherungen haben die Viehzüchter in Brandenburg oft kein Geld mehr übrig, weil sie vor allem in ihren Tierbestand investieren. Seit die Kuh- und Schweinenapper in Brandenburg ihr Unwesen treiben, verbringen Kleinbauern und Genossenschaftslandwirte schlaflose Nächte.
„Davor hab' ich immer Angst gehabt“, meint Wolfgard Preuß, Vorstandsvorsitzender der landwirtschaftlichen Genossenschaft in Ziesar. Im Februar hatten die Viehdiebe in dem kleinen Dorf zugeschlagen, das 100 Kilometer westlich von Berlin nahe der Autobahn Richtung Hannover liegt. Als Preuß am Montag, dem 24. Februar, den Schweinestall öffnete, fehlten 42 Tiere, die an diesem Tag verkauft werden sollten. Irgendwann in der Nacht zuvor waren die Täter, vermutlich mit zwei Transportwagen, rückwärts vor den Stall gefahren, hatten die Schlösser mit einem Bolzenschneider zerstört und die Tiere aufgeladen. Die Aktion ging schnell über die Bühne, im Dorf hatte niemand was gemerkt. Die Genossenschaft war nicht versichert, fünf Monatslöhne — 10.000 Mark — waren auf Nimmerwiedersehen verschwunden.
Ähnliches passierte im Januar in Vogelsdorf, einer Kleinstadt östlich von Berlin. Hier verschwanden über Nacht 62 Mastbullen, die am Rande der Gemeinde in einem Stall untergebracht waren. Die Polizei rätselte: Wie schafft man unbemerkt solche Viecher weg? Schließlich ist es nicht ungefährlich, einen Stier zu entführen. Auch hier gelang der Diebstahl unbemerkt. Nur eine 62jährige Anwohnerin hörte gegen Mitternacht, wie der Hund anschlug und kurz darauf Lastwagen vorbeifuhren. Doch sie dachte sich nichts dabei. „In den letzten Wochen sind oft spätabends noch Baufahrzeuge vom Hof gefahren.“ Der Schaden für die ehemalige LPG: 70.000 Mark. „Wer die Bullen schlachtet und direkt an den Endverbraucher verkauft, kann 150.000 Mark damit machen“, weiß Rainer Gomert, Leiter der Genossenschaft.
Allein im Januar '92 verschwanden über 150 Tiere in Brandenburg — die Polizei kam in ihren Ermittlungen nicht weiter. Das Problem: Weil die Ställe der ehemaligen LPGs meist außerhalb geschlossener Ortschaften liegen und nicht bewacht werden, droht den Viehdieben kaum Gefahr. Nicht einmal Reifenspuren fanden die Beamten zu Beginn des Jahres, weil der Boden festgefroren war. Die Mitarbeiter der Sonderkommission (Soko) „Weide“ des Landeskriminalamtes (LKA) sind sich einig: Die Tiere werden nicht über die nahegelegene Grenze nach Polen gebracht. Mastbullen, Kälber, Milchkühe und Schweine enden in westdeutschen Schlachthöfen — oder im benachbarten Ausland. An der ewig verstopften polnischen Grenze wären die Täter längst aufgefallen. Die Beamten vermuten weiter, daß hier Profis am Werk sind. „Wer einen Bullen aus einem Stall holt, muß wissen, daß er ihn nur am Nasenring hinausführen kann. Sonst wird's für den Viehdieb vielleicht der letzte Diebstahl“, erklärt Kriminalist Jürgen Albrecht.
Die Täter stammen wahrscheinlich aus der Viehbranche — schließlich verfügen sie über Viehtransporter — und arbeiten in Gruppen bis zu sechs Personen. Treiber, Fahrer und Fälscher sind am Werk: Werden die Tiere in Schlachthöfe gefahren, müssen die Herkunftspapiere „stimmen“. „Leider nehmen viele Schlachthöfe es mit den Dokumenten nicht so genau“, sagt Soko-Chef Albrecht. Die Beamten glauben weiter, daß mehrere, konkurrierende Banden am Werk sind: „An eine Kuh- Mafia glauben wir nicht!“
Die Täter arbeiten immer nach demselben Strickmuster: Zunächst erkunden sie unter einem Vorwand die Ortschaft. Sie wählen unbewachte Ställe aus, die in Autobahnnähe liegen, um mit den Viehtransportern bessere Fluchtchancen zu haben. Nach diesem Prinzip verlief ein Viehdiebstahl in Boosen bei Frankfurt: Zwei junge Männer, vermutlich Holländer, tauchten mit einem japanischen Geländewagen bei einer Agrar-GmbH auf, heuchelten Kaufinteresse. Sie ließen sich die Tiere des Anwesens zeigen und verschanden wieder. Zwei Tage später fehlten 40 Jungbullen im Stall. Die angeblichen Käufer kamen nie mehr wieder. Dummerweise hatten die Bauern die Nummer des Jeeps nicht notiert.
Daß zumindest für einen Teil der Diebstähle Holländer verantwortlich sind, ist mehr als wahrscheinlich. Vor kurzem wurden im Münsterland zwei junge Männer verurteilt, die im Sommer 1990 Schweine aus Brandenburg gestohlen hatten. Erwischt wurden sie vor der niederländischen Grenze. Vor zehn Jahren kam es in Ostfriesland zu einer grausamen Serie von Kuhmorden. Aus fahrenden Geländewagen heraus wurden die Rinder abgeknallt. Die Kuhkiller — allesamt aus den Niederlanden — schnitten sich nur die Filets heraus und ließen die blutigen, später stinkenden Kadaver auf der Weide zurück. Auf die Frage, ob Holländer auch in die aktuellen Fälle verwickelt sind, will Albrecht noch nicht antworten. „Das würde die Ermittlungen gefährden.“
14 Monate lang tappte die Polizei im dunkeln. Aber seit ein paar Tagen hat sie endlich eine heiße Spur. Durch die Berichte über den Viehdiebstahl aufgeschreckt, organisierten viele Bauern Wachmannschaften, die abends um die Ställe patrouillierten. Als Viehdiebe sich nach der Tat in der Nähe von Potsdam vom Acker machen wollten, wurden sie erwischt. Zwei Bauern verfolgten den Transportwagen mit Anhänger. Die Diebe gerieten in Panik, koppelten den Anhänger an einem schmalen Weg ab. Die Straße war abschüssig, der Anhänger rollte den Hügel hinunter — direkt auf das Auto der Bauern zu. Die Verfolger rasten im Rückwärtsgang den Weg hinunter, retteten sich „in letzter Sekunde“ in eine Seitenstraße.
Der möglicherweise lebensgefährliche Aufwand hat sich gelohnt. „Ein Anhänger mit Autokennzeichen — das ist für uns natürlich ein Geschenk“, freut sich Jürgen Albrecht. Das Kennzeichen sei deutsch gewesen, mehr will der Kripo-Mann nicht verraten. Trotzdem ist Albrecht nicht glücklich darüber, daß Brandenburgs Bauern nun immer mehr auf Selbstschutz setzen. In Belzig, einer kleinen Gemeinde nahe Berlin, gingen Viehdieb-Opfer sogar mit Schrotflinten auf Patrouille. „Wenn ihr einen abknallt, gibt das tierischen Ärger“, warnte die Polizei die Genossenschafter. Da ließen die Geschädigten die Waffen abends wieder im Schrank. Bauer Andreas Schulz, dem die Diebe elf Kühe von seinem Hof in Brück gestohlen hatten, schlug sein Nachtlager bei bitterer Kälte in Sichtweite der Tiere auf: Er campierte im vergangenen Winter mehrmals im Zelt.
Einige Genossenschaften haben sich nun entschlossen, private Wachmannschaften anzuheuern, um ihre Tiere zu beschützen. Billig sind auch die nicht — bis zu 10.000 Mark kann die Sicherheitsmaßnahme im Monat kosten. Der Preis hängt davon ab, wie viele Objekte die Sheriffs pro Nacht anfahren müssen. Dieser Aufwand lohnt nur für größere Betriebe, kleine Genossenschaften oder Privatbauern können sich den Luxus nicht leisten. Wolfgard Preuß fürchtet neue Diebstähle: „Wenn das noch zwei-, dreimal passiert, können wir dichtmachen!“ Auch seine Genossenschaft, die 45 Mitarbeiter beschäftigt, hat Sicherheitsvorkehrungen getroffen: „Wir gehen ab 8 Uhr abends nicht mehr in den Stall. Wenn später Licht brennt, wissen wir, was los ist!“
Die Soko Weide wurde erst vor ein paar Monaten installiert, vorher wurden die Viehdiebstähle von den Polizeipräsidien in Brandenburg bearbeitet. Eine Sonderkommission wegen 700.000 Mark Schaden in 14 Monaten — das hat es in der Bundesrepublik selten gegeben. Die Entscheidung traf der brandenburgische Innenminister höchstpersönlich: „Den verunsicherten Bauern soll das Gefühl vermittelt werden, daß wir sie nicht alleine lassen“, erläutert Jürgen Dziuba, Pressesprecher beim LKA, die Entscheidung.
Im Wilden Osten droht den auf frischer Tat ertappten Mitgliedern des Kuh-Klau-Klans bis zu zehn Jahren Knast. Den Bauern in Brandenburg reicht das nicht aus. „Als ich morgens den leeren Stall gesehen hab', hatte ich Tränen in den Augen“, bekennt der Geschäftsführer einer Genossenschaft, die nun um ihr Überleben kämpfen muß. Der Mann, der seinen Namen nicht gedruckt sehen will, sagt weiter: „Wenn wir hier schon Wildwestverhältnisse haben, sollte das auch entsprechend geahndet werden.“ In Texas wurde Viehdiebstahl mit dem Tod durch den Strang bestraft.
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