: Schlittenfahren
■ Claudia Reiche über Geschlechtsdifferenz
Sieht man sie oder sieht man sie nicht, die Geschlechtsdifferenz, den kleinen Unterschied, der die Menschheit in Männer und Frauen unterteilt?
Wer glaubte, daß diese eigentlich doch offensichtliche Differenz sich an dem vorhandenen oder fehlenden Schnippelchen festmacht, durfte sich von Claudia Reiche am Freitag den 13. im Frauenkulturhaus eines Besseren belehren lassen. In einer multimedialen Veranstaltung mit Performance, Dia-Show, praktischen Übungen an einem handtellergroßen 'Sex-Movie'-Gerät, wo jede mal durfte, und einem poststrukturalistischen Vortrag wurde das Problem „Geschlechtsdifferenz und Sichtbarkeit“ beleuchtet.
Zunächst ließ die Hamburger Literaturwissenschaftlerin und Videokünstlerin erst einmal selbst die Hüllen fallen: Mit Pelzmütze, Clownsnase und rosa Glitter auf den nackten Brüsten galoppierte Claudia Reiche für das staunende Damenpublikum über das Parkett. Sie stellte ihren immer wiederkehrenden Traum von einer Schlittenfahrt dar, aber war sie nun das Pferd oder der Kutscher? Gleichzeitig zweierlei zu sein ist etwas, was das sichtbare Bild ausschließt. Geschlechtsdifferenz sichtbar zu machen ist deshalb ein schwieriges, wenn nicht unmögliches Unterfangen, gerade so, als wolle man die Wahrnehmung selbst sehen.
Wer jetzt schon irritiert ist, sollte Claudia Reiches Thesen hören: Erstens, die Geschlechtsdifferenz ist sichtbar und zweitens, die Geschlechtsdifferenz ist unsichtbar. „Wenn beides stehen bleiben soll, dann ergibt sich etwas, das als Problem bezeichnet werden könnte, allerdings im logischen und nicht im tragischen Sinn,“ glaubt Claudia Reiche. Die zeitgemäße Verbildlichung der Geschlechtsdifferenz würde in unserer Medientechnologie so augedrückt: 0 für die Frau, denn sie hat „es“ nicht und 1 für den Mann, der „es“ hat. Es wird nämlich nur mitgezählt, was sichtbar ist, und das wäre bei 0 für die Frau eben nichts. Hier scheint uns also etwas zu entgehen, oder warum gilt die Frau mit ihrer offensichtlichen Mangelhaftigkeit geradezu als Inbegriff des Erotischen, als Modell aller Bilder?
Die Antwort liegt nach Claudia Reiche im Unsichtbaren: Das Bild der Frau „muß wohl noch ein zusätzliches Unsichtbares zeigen als nur das Fehlen eines Körperteiles.“ Das Geheimnis ist ein Paradox, denn die Differenz liegt zwischen den beiden Bildern 0 und 1 und ist ein Nicht-Bild.
Um die unsichtbare Differenz zwischen zwei Bildern vorstellbar zu machen, zog Claudia Reiche die Funktionsweise einer technisch hergestellten bildlichen Täuschung zu Rate: die Bewegungshalluzination Film. Zwischen den Einzelbildern der Filmrolle könnten „wir ja eigentlich zu Recht die Bewegung vermuten.“ Stattdessen: ein schwarzer Balken, aber keinesfalls eine Bewegung.
„Immer derselbe schwarze Balken, der wie in pornographischen Darstellungen unseren Schauwunsch zugleich zu enttäuschen und lebendig zu halten scheint,“ erklärt Claudia Reiche. Die Sichtbarkeit der Geschlechtsdifferenz liegt also deutlich dort, wo wir nichts sehen und ist deshalb unsichbar - alles klar? Silke Mertins
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