Müde Edelhirsche, wieder auf der Pirsch

Walter Jens spielt für Journalisten die Tragikomödie von der Vereinigung der Künstlerakademien Ost und West  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Dem Wunsch seiner Frau konnte Walter Jens nicht nachkommen. Sie hatte ihn gebeten, das Wort „Akademie“ zwei Tage lang nicht mehr auszusprechen. Aber wie sollte das möglich sein, wo erstens dieser Mann Präsident der Akademie der Künste am Hanseatenweg in Berlin-Tiergarten ist, und zweitens die Vorbereitung der Fusion mit dem mehr oder weniger spiegelbildlichen Verein am Robert-Koch-Platz bevorsteht. Und das Ding heißt schließlich auch Akademie. Wie hatte André Thomkins gewarnt? Nie reime, da kann Akademie rein. Zu spät: von vorn oder hinten gelesen, es waren zwei Akademien.

Die Geschichte will Jens für die Journalisten in „einer etwa zehnminütigen Rede“ noch einmal rekapitulieren. Dazu hat er sein linkes Bein über sein rechtes geschlagen und offenbart so eine Sohle mit sportlichem Profil, ziemlich abgelatscht. Neben ihm K.-P. Herbach, der langgediente Pressesprecher des Hauses, mit rosagestreiftem Hemd über dem mächtigen Bauch; rote Socken mit Karo. Sie sind schon ein Paar.

Jens schickt seinen Vogelblick in die Runde, ein gutes Dutzend Journalisten ist gekommen. Wie um ihrer Skepsis Gewicht zu verleihen, verweigern sie die Aufnahme einer stattlichen Mischung Bahlsen-Kekse. „Warum das große Interesse?“ ruft der Tübinger Rhetorikprofessor mit dem unverkennbar hamburgischen Tonfall (zwischen den Füßen die Heringe, die Nase knapp über dem handgeschnitzten Kontor). „Wie war das mit dem Fall Biermann?“ fragt er, diesmal wirklich nur rhetorisch. Eins ist klar: Jens will gut Wetter machen für die Entscheidung der Mitglieder der westlichen Akademie, die Mitglieder der östlichen Akademie komplett zu übernehmen, nachdem jene zwei Drittel ihrer Künstler hinausgewählt hatten. Und die Zustimmung des Landes Berlin, die eine Gesetzesänderung erfordert, steht noch aus.

Humanität, Streitkultur, Diskurs: das sind die stumpfen Waffen, die Jens schwingt. Aber wie er sie schwingt! Seine rechte Hand beschreibt Bögen, als wolle er einen Kandinsky nachmalen. Sein Oberkörper fährt vor, verhärtet sich, fällt zurück ins Sofa. Der Zeigefinger steht mahnend im Raum wie ein Obelisk. Wenn weiterhin nur offene Briefe geschrieben werden, „sind wir bald am Ende“. Er meint nicht das Ende der Akademie, sondern mit größter Wahrscheinlichkeit das Ende einer Ära, die mit Rousseau begonnen hat und deren Andauern der Präsident unterstellt.

Jens unterstellt auch, daß es sich bei der Haltung der neu dazukommenden und der entflohenen Künstler (bisher 26) um ein Spektrum von Meinungen handele. Er spricht von der Universität und dem Miteinander ihrer „Fraktionen“. Er erwähnt die Gefahr, daß die (Ost-)Archive hätten verloren gehen können. Er fährt die Kränkungen auf und rächt sich mit brüchigen Ehrungen: Kunert, den „ich kenne, schätze...“. Ein kleiner Abfall in der Stimme, der das Gesagte zur Routine macht. Er bringt die Mitarbeiter ins Spiel, über 300 an der Akademie im Osten, von denen er ein Zehntel oder wenig mehr zu übernehmen hofft. Die dreiundzwanzigbändige Arnold-Zweig- Ausgabe ist dann „nicht mehr vordringlich“. Die Mitarbeiter entwickeln sich zum Hauptargument: Jens, der sich als „alter Gewerkschafter“ bezeichnet, will „aufrechten Hauptes an der Pförtnerloge vorbeigehen können“.

Man nimmt es alten Leuten nicht übel, wenn sie Nichtigkeiten mit Elan vortragen und Wichtigkeiten vor sich hinnuscheln. Die Rede ist durchsetzt von kleinen Erinnerungen und Geistesblitzen, ein Zitat wird tonlos eingeflochten, Kommas werden melodramatisch aufgerichtet zu Gedankenstrichen; Aussage und Kommentar, Liebeserklärung und Geste der Verachtung können leicht verwechselt werden. Die subjektive Geschwindigkeit zählt. Alles hat, wie bei Nolde und Marc, eine krasse Farbe, eine Farbe der Intuition, nicht der Abbildung.

Jens spielt diesen Alten gut, Minetti könnte es nicht besser. Denn er spielt sich selbst, den Präsidenten Walter Jens. Von Leiden zerfurcht offenbare ich Euch die Wahrheit: Und Ihr werdet sehen, es ist Eure Zukunft. Ja, lacht nur, mit mir und gegen mich, so vertreibt Ihr Eure Bitterkeit.

Schon kommt er zu Ende, die Schulstunde war kurz. Aber noch bevor die erste Frage gestellt wird, erscheint die Position des Präsidenten brüchig. Es ist eine Rede, die nur als Rede funktioniert, ein Filibuster, der irgendwann abbrechen muß.

Die Zweifel der Journalisten wirken, zusammengetragen, durchaus bedrohlich. Das Okay des Bürgermeisters Diepgen zur Vereinigungsformel Walter Jens' und Heiner Müllers scheint nicht mehr so sicher wie noch vor sechs Wochen. Schon taucht das Gespenst auf, daß das Berliner Parlament der Gesetzesänderung nicht zustimmen werde, die östliche Akademie ohne Nachfolge aufgelöst wird und alle im Westen verlorenen Mitglieder umsonst verloren sind. Selbst die Satzung der westlichen Akademie, deren Erhalt Ziel der Vereinigung per Blockübernahme gewesen war, ist offenbar nicht garantiert: Sie wird vom Senat, unter Mitwirkung der Akademie am Hanseatenweg, neu geschrieben. Wenn aber die individuelle Zuwahl der östlichen Mitglieder eine „Demütigung“ gewesen wäre, warum sind sie dann bei der Neuformulierung einer Satzung nicht gefragt? Ob der Senat dreißig bis vierzig Mitarbeiter aus dem Osten übernimmt, gilt nicht als sicher (ein Journalist erwähnt, beim Senat dächte man „an zwei“).

Auch das Haus am Robert-Koch- Platz muß erst, von Jens und seinen neuen Mitstreitern, „erkämpft“ werden. In der Abteilung Bildende Kunst, die mehr West-Künstler verlassen haben (17) als Ost-Künstler hinzugekommen sind (15), wird eine Abstimmungsniederlage bei der Neuzuwahl eines in der DDR oppositionellen Künstlers denkbar. Nicht nur etliche der neuen Mitglieder aus dem Osten erscheinen fremd im Licht der Akademie, die laut Jens als Waffe im Kalten Krieg gegründet worden war, sondern auch alte Linke aus den alten Ländern, die über die östliche Akademie hinzukommen: Franz Josef Degenhardt, Klaus Staeck.

Walter Jens lobt sie, und es wird etwas von einer alten Koalition spürbar, die mit der deutschen Vereinigung so gar nichts zu tun hat: Böll und Albertz werden erwähnt, die Haßobjekte eines bellenden Monstrums namens Strauß. Die Kontrahenten des „deutschen Herbstes“ (nach dem Tod Schleyers 1977) sind nicht mehr zu messen an der Wut derer, die auf Geheiß von Honecker und Mielke in den Westen geschafft worden sind, im Güterwaggon, wenn's schlimm kam.

Weil es die Akademie am Hanseatenweg ist, die formal „überlebt“, stellt sich auch die Frage nach ihrer Vergangenheit. Legenden erzählen von einem regen Haus, das in den Sechzigern eine von wenigen Anlaufstellen für umgetriebene und umtriebige Intellektuelle in West-Berlin war, mit wichtigen Versammlungen, Vorträgen und Retrospektiven. Aber die lange Plakatwand im Erdgeschoß ist das einzige Zeichen der Erinnerung. Die Abteilungen haben munter Mitglieder zugewählt, deren Interesse an der Akademie mit dem Alter geschwunden ist, eine Liste „müder Edelhirsche“ (Jens), die sich nicht einmal mehr versammelten. „Gespenstisch“ erscheint dem siebzigjährigen Präsidenten „die Männerakademie, die viril zurückblickt“ (und nur zwei der versammelten Zeitungsleute sind Frauen). So ist am Hanseatenweg die Bürokratie übriggeblieben, ein Club von „Sekretären“, deren Gehalt zu gut ist, um sich nach etwas anderem umzusehen, und deren Ideen nicht ausreichen, um das geräumige Haus mit Leben zu füllen. Richtig voll ist es im Haus der Akademie, wenn es zweckentfremdet wird, zur Zeit der Berlinale. Es gibt momentan nichts, woran man die Pläne einer vereinigten Akademie messen könnte: „Jetzt ist sehr viel Zündstoff da“, glaubt Jens, aber was ihm als Projekt der Zukunft einfällt, ist eine Vergleichsausstellung von bildenden Künstlern aus dem Westen und aus dem Osten.

Jens selbst führt vor, was der „offene Diskurs“ wäre, der ihm vorschwebt: eine Konferenz rhetorischer Umarmungen, die sich an einem falschen Toleranzbegriff geschult hat. Es gibt Differenzen, die nicht zu überbrücken sind; das Gesprächsangebot an die vor der Diktatur der DDR Geflüchteten ist ein Scheinangebot, weil sie im Kreis der Mitmacher und Verfolger zu ewigen Anklägern würden, denen mit der Wiederholung ihrer Klage der Status des Querulanten zuwachsen würde. Wer sich das beschönigende Gefasel eines Malers Mattheuer anhört, weiß, warum so unterschiedliche Leute wie Günter Kunert oder Gerhard Richter die Flucht angetreten haben, und warum die Zuwahl eines Rainer Kunze oder Wolf Biermann über lange Frist undenkbar ist. Von wegen Biermann wählen, darauf ist irgendwie noch keiner gekommen. Wie aber will man den Bruch überwinden, wenn die Gebrochenen nicht dabei sind?