Rückkehr zum „historischen Kompromiß“?

Die Mordwelle im italienischen Wahlkampf hat die Frage der öffentlichen Sicherheit in den Vordergrund gerückt  ■ Aus Italien Werner Raith

Leoluca Orlando, ehemaliger Oberbürgermeister von Palermo, übt sich derzeit in Antworten auf immer dieselbe Frage: ob es ihn reue, seinen nun ermordeten Vor-Vorgänger Salvo Lima so hart als Mafia-Freund attackiert zu haben? „Überhaupt nicht“, sagt Orlando, „Das fehlte gerade noch“. Dennoch: man sieht ihm an, wie schwer der Mord am Europaabgeordneten seine Wahlkampfstrategie durcheinandergebracht hat. Orlando, der Mitte der achtziger Jahre als erster Front gegen die mafiose Durchdringung Palermos gemacht hatte, ist ausgezogen, mit einem lockeren Zusammenschluß lokaler Anti-Korruptions-Initiativen namens „Rete“ (Netz) vor allem im Norden der Republik Stimmen für die Wahl vom 5. und 6. April zu sammeln — mit dem Ruf nach Transparenz, Verantwortlichkeit, Bürgernähe. Ausgerechnet das nach Polizeierkenntnis zu neunzig Prozent von der Mafia kontrollierte Sizilien soll nach dem Ex-Christdemokraten Orlando „zum Laboratorium für eine neue Moral in ganz Italien werden“. Leute wie Lima, aber auch der schillernde Ministerpräsident Andreotti mit vielen Verbindungen zu dunklen Zirkeln, dürfe es in Italiens Politik nicht mehr geben.

Und nun dieser Mord. Geifertriefend beschuldigen Limas Christdemokraten Orlando: „Schlimmer noch als Täter und Auftraggeber“, befand Regierungschef Andreotti seien diejenigen, „die dauernd gegen Salvo Lima gehetzt haben“. Orlando, der Moralisierer, muß sich nun ausgerechnet von jenen eine Moralisierungskampagne aufdrängen lassen, deren Moral er am heftigsten angegriffen hatte. Derlei Hiebe sitzen. Doch noch schlimmer sind für ihn „all die Trittbrettfahrer solcher Ereignisse, die nun in Massen anrücken.“ So etwa die Neofaschisten, die wieder einmal eines ihrer Lieblingsthemen lancieren können: die Einführung der Todesstrafe. Orlando sucht verzweifelt mit einer Legalitätskampagne zu kontern: Gangster gehörten in Gefängnisse, und zwar in sichere. Daran fehle es, nicht an Scharfrichtern.

Doch die öffentliche Meinung neigt derzeit eher zu den Hardlinern, zumal die Bluttaten von Tag zu Tag weiter ausufern. Am Tag vor Lima war ein Stadtrat der KP-Nachfolgeorganisation Demokratische Linkspartei (PDS) ermordet worden, tags darauf fielen acht Menschen unter Gangsterkugeln, darunter zwei Polizisten und die Frau sowie der engste Mitarbeiter eines Camorra-Bosses. Staatspräsident Cossiga, wie immer populistisch, hat eine „erbarmungslose Aktion des Staates“ angekündigt. Der Vorsitzende der Christdemokraten, Arnaldo Forlani, hat schon vor zwei Jahren anläßlich der Morde an mehreren Stadtratskandidaten die „Kopf ab“-Rufe angeführt.

Eigentlich sollte die aktuelle Entwicklung Wasser auf die Mühlen einer anderen relativ neu angetretenen und überaus erfolgreichen Gruppierung sein — der „Ligen“. Die „Lega del nord“, ein Zusammenschluß verschiedener Organisationen wie der „Lega lombarda“ oder der „Union ligure“ hat mit separatistischen, oft auch rassistischen Parolen vor allem im Norden bei Regional- und Kommunalwahlen Stimmen wie Fallobst gesammelt. Ihren Wahlkampf gedachte sie zweizuteilen: im Norden streute sie Angst vor mafioser Infiltration aus dem Süden und der Vergabe der immensen Steuergelder des Nordens an die Klientel römischer Politiker im Süden. Im Süden dagegen, wo sie eigens eine „Lega del sud“ ins Leben gerufen haben, wollten sie mit ihrer Idee einer Auflösung des Zentralstaates zugunsten einer lockeren Föderation von drei Großregionen (Nord, Mitte und Süden) werben: Das Versprechen großer Autonomie und noch weniger Kontrolle durch Rom müsse den stets widerborstigen Sizilianern doch gefallen, vermutete „Lega“-Chef Senator Umberto Bossi.

Doch auch Bossi hat die Mordserie getroffen. In seinen Veranstaltungen im eigenen Mailand geriet er vorige Woche stark in Bedrängnis, weil ein Teil der schauerlichen Taten sich just in seinem Einzugsgebiet abspielt — reihenweise Morde an Polizisten, etwa in Rimini, Bologna, Verona, und die ließen sich weder Südlichtern noch Immigranten anlasten. Und im Süden kann der Senator niemandem mehr erklären, warum ein geschwächter Staat besser mit Mafia und Camorra fertig werden soll als ein starker.

Die Mordserie hat die Frage der öffentlichen Sicherheit in den Vordergrund gerückt. Das aber freut Regierungschef Andreotti: er kann sich so von allen anderen drängenden Fragen wegstehlen. Behend hat er, ganz das alte Schlitzohr, bereits wieder den Dreh gefunden: er präsentiert sich („Mein Freund Lima“) als Mitopfer des Mordes und fordert, als habe er erstmals davon gehört, mit dem „Krebsübel Mafia ein für allemal aufzuräumen.“ Wie er sich das vorstellen könnte, hat Andreotti Mitte der Woche aufgezeigt: eine „Koalition der nationalen Solidarität“ sei vonnöten, so wie man sie in den siebziger Jahren zum Kampf gegen den Terrorismus gebildet habe, als Allianz aus Christdemokraten und Kommunisten, der sogenannte „historische Kompromiß“.

Daß damit er selbst erneut Ministerpräsident würde, sieht er als gewiß an — auch 1978 war er es gewesen, dem der viel redlichere und angesehenere (kurz danach entführte und ermordete) DC-Chef Aldo Moro den Vortritt im Amt des Regierungschefs hatte lassen müssen.