Eine Moskauer Schule zwischen Alt und Neu

Das russische Schulwesen steht vor unlösbaren Aufgaben/ Doch trotz fehlender finanzieller Mittel und zahlreichen ratlosen Lehrern gibt es auch erste positive Veränderungen/ Einige Schüler suchen das schnelle Geld  ■ Aus Moskau K.-H. Donath

Valentina Popowa rezitiert ein zartes Verschen zum russischen Muttertag. Während ihre Stimme um mehr Kraft ringt, wippt sie im Jambus auf die Tür zu. Ihre Worte sind kaum zu vernehmen. Ein ohrenbetäubendes Gebrüll dringt vom Flur her in das Zimmer der 5. Klasse. Valentina Popowa schaut nach und kehrt um, als wäre nichts gewesen, ohne vom Gewicht ihrer Autorität Gebrauch zu machen. Wir sind nicht in Summerhill, sondern an der 11. Schule im Moskauer Bezirk Tschereomuschki. „Eine ganz gewöhnliche Schule“, wie der Direktor sagte. Der Lärm ebbt auch in den letzten zwanzig Unterrichtsminuten nicht ab. O tempora, O mores! hätte Cicero den Sittenverfall kommentiert. Doch für Popowa und Direktor Gennadewitsch scheint das normaler Alltag zu sein. Jedenfalls setzt der jungenhafte Direktor nicht einmal eine ernste Miene auf, als das Verhalten seiner Schutzbefohlenen zur Sprache kommt. „Wir pflegen schon seit einigen Jahren einen demokratischen Umgang“, schmunzelt er im Stil der neuen Zeit. Demokratie und Autoritätsverlust werden in der Übergangsperiode synonym verwand. Mit dem Daumen zeigt er nach hinten: „In unserer Nachbarschule herrscht noch ein militärisches Regime.“ Damit will er sagen, daß auch sie keine besseren Leistungen erzielen werden.

Andrej Gennadewitsch macht andererseits kein Hehl aus der vertrackten Lage, in der die Lehrerinnen und Lehrer im heutigen Rußland stecken. Sie müssen Ausputzer spielen für die verlorene Ideologie, die lange Zeit der Schule und dem Bildungssystem die Korsettstangen geliefert hat. „Doch was können und sollen wir den Kindern heute als Ersatz bieten?“, fragt er. „Ändern ja, aber in welche Richtung? Wir haben doch selbst keine anderen Erfahrungen gemacht.“ Gennadewitsch ist von Haus aus Historiker, Mitte dreißig, ein bescheidener Typ. Sein Hängebauch stammt noch aus der Zeit als Erster Sekretär des Komsomol, des staatlichen Jugendverbandes.

Vor fünf Jahren gab er sein Parteiamt auf, um Lehrer zu werden, erzählt einer seiner Kollegen später. Den Entschluß habe er aus eigenen Stücken gefaßt, eine Entscheidung, die schon damals einem sozialen Abstieg gleichkam. Denn der Lehrerberuf hat im letzten Jahrzehnt erheblich an Prestige eingebüßt, die Perestroika gab ihm dann den Rest. Noch immer gehören die PädagogInnen zu den unterbezahlten „Spezialisten“ Rußlands. Gennadewitsch verbirgt seine Unsicherheit und Ratlosigkeit nicht. Noch immer hänge er am kommunistischen Ideal. „Nach den Sommerferien, kurz nach dem Putsch, hatten wir harte Auseinandersetzungen mit unseren älteren Schülern. ,Sie sind doch Kommunist, in was für einer Gesellschaft bewegen Sie sich?', warfen sie mir vor.“ Allmählich hört man wieder andere Töne, fährt er fort, „vielleicht wäre es doch nicht so schlecht gewesen...“, lacht er ein wenig verschämt. Er weiß wohl selbst nicht genau, was er will.

Unsicherheiten im Lehrerkollegium

Seine Kollegen, der junge Russischlehrer Sergej Igorewitsch und die „Verwalterin“ der Schule, stimmen ihm kopfnickend zu. Ihre Pein ist physisch spürbar, als säßen sie gerade auf der Couch. Im Vergleich zu anderen Schulen arbeitet hier ein sehr junges Kollektiv, keine Lehrkraft ist älter als 45. Selbst ihnen fällt die Umstellung schwer. Im Direktorenzimmer herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Es ist nur mit dem Elementarsten ausgestattet: ein Schreibtisch, ein paar alte abgesessene Polsterstühle, ein Safe, keine Schreibmaschine, kein Computer. Um die technische Grundausstattung der Schule ist es miserabel bestellt. Den über 800 Schülern stehen vier Computer zur Verfügung. In absehbarer Zeit wird sich daran nichts ändern. Der Bildungsbereich mußte seit jeher mit den „Restposten“ des Budgets vorliebnehmen. Die Verwalterin wirft ein, unproduktiv sei, daß gerade ältere „Kader“ aus dem Mangel noch eine Ehrensache machen, nach dem Motto: „Ich brauche nicht mehr als ein Stück Kreide...“ „Das reicht in unserer Zeit doch nicht“, meint Gennadewitsch, „es zeigt, wiewenig wir psychisch auf Konkurrenz und Marktwirtschaft vorbereitet sind.“

Sein Bedauern klingt ehrlich. Und doch wieder nicht, denn die „psychische Prädisposition“ — dieses Universalargument — läßt viele Hintertüren offen. Mangelnde Motivation und Trägheit lassen sich damit genauso rechtfertigen wie bewußte Sabotage. Der Direktor rechnet mit mehr als zehn Jahren, bis sich tatsächlich etwas verändert haben wird. Doch davor liegt eine ungeheure Hürde. „Wir brauchen ganz neue Lehrkräfte, aber woher sollen wir sie nehmen und außerdem — was nützt Theorie allein?“ Ein kleiner Anfang zu Selbständigkeit und Aufbesserung der Finanzen sei immerhin gemacht. Abends und am Wochenende werden die Räume an Sportvereine und Sprachkurse vermietet.

Ein Frustrierter und eine Optimistin

Im Korridor, auf dem Weg zum Unterricht der elften Klasse, stimmt Sergej Igorewitsch ein bekanntes Klagelied an: „Sie wollen einfach nicht mehr lernen. Die Schüler sehen, wie schnell man heute mit kleinen Geschäften Geld machen kann und glauben, das schaffen sie auch.“ Sein Blick bleibt an drei Papierfetzen auf den Treppenstufen hängen: „Fürchterlich dreckig, nicht wahr?“ Igorewitsch hat noch nie eine Berliner Gesamtschule gesehen. Dagegen ist es hier aseptisch wie im OP. Die Wände sind frisch gestrichen, kein Graffitti und nicht eine einzige Kaugummiflade ziert das glänzende Linoleum. Es ist der eigene Frust, an dem der Lehrer leidet. Sein Fach, die Literatur, findet keinen Anklang mehr. Im Leseplan hat sich nichts geändert. Sergej verteidigt das auch. „Literatur bleibt Literatur.“ Er kann es nicht verstehen, wenn die Schüler ehrfurchtslos bei allem, was mit alten Idealen zu tun hat, in Hohngelächter ausbrechen. Jedesmal verletzt ihn das aufs neue. „Sie plappern nur nach, was sie irgendwo aufgeschnappt haben, in den Medien oder zu Hause. Die Orientierung fehlt ihnen.“ Könnte er am Lesestoff nicht selbst etwas ändern, spannenderen auswählen? Theoretisch schon. Doch persönlich kann er es nicht. Zur Literatur der Perestroika-Zeit und der russischen Emigration fehlt ihm der Zugang. Sie sage ihm nichts, sei das Gegenteil dessen, was seine Erziehung ausgemacht habe. „Ich kann einfach nicht“, flüstert er. Er ist gerade 37 Jahre und sehr traurig.

Olga Pawlowa ist das genaue Gegenteil. Die kleine zierliche und resolute Frau ist das Bilderbuchbeispiel einer Pädagogin. In der Abschlußklasse unterrichtet sie „Familienpsychologie“. Ein Probekurs, der seit einem Jahr läuft. Aufbereitete Unterrichtsmaterialien gibt es noch nicht. Mit Hilfe von Psychologen der Moskauer Universität und der Unterstützung der Kirche stellt sie selbst die einzelnen Unterrichtseinheiten zusammen. „Für mich hat mein Beruf eine Menge Prestige“, sagt sie, „mir helfen die Schüler, zufrieden zu sein.“ In der Tat gehen die 36 Abgänger mit Olga Pawlowa sehr freundschaftlich um. Die Klasse hat sich in ihrem letzten Jahr auf Pädagogik spezialisiert. Die meisten wollen Lehrer werden. Eine Menge Enthusiasmus versprühen sie. Der eine oder andere mache zwar auch nebenbei „seine Geschäfte“, grinst der 17jährige Wolodja, doch das sei nicht der Lebensinhalt, fügt er ein wenig altklug hinzu.

Noch verläuft der Unterricht im traditionellen Frage-Antwort-Spiel, es geht dabei aber locker zu. Ansätze zur Diskussion lassen sich erkennen. Mit der Klassenlehrerin entscheiden die SchülerInnen selbst, was sie durchnehmen wollen. Und was hat sich sonst in den letzten Jahren im Verhältnis zu ihren Lehrern geändert? „Das gegenseitige Verständnis ist gewachsen“, meint Irina nach einer Gedankenpause. „Man behandelt uns wie selbständige Persönlichkeiten... Ja, das stimmt“, versichert sie sich noch einmal selbst. Wenn es in der kurzen Zeit gelungen ist, den Schülern dieses Gefühl zu vermitteln, hat Irina allen Grund zu stutzen. Mehr läßt sich nicht erwarten. Unter vier Augen hatte Olga Pawlowa zuvor genau das als ihr Credo ausgegeben: Die Schüler müssen die Schule als Persönlichkeit verlassen. Und sie war sich in ihrem optimistischen Urteil sehr sicher: „Diese Generation entscheidet schon für sich selbst.“