Ende der gewerkschaftlichen Seligkeit

Mit der deutschen Einheit und EG 92 weht den Gewerkschaften der Wind ins Gesicht  ■ Aus Koblenz Martin Kempe

Es ist nicht wie 1984, als über den Gewerkschaften IG Metall und IG Druck und Papier wegen ihrer Forderung nach der 35-Stunden-Woche ein Trommelfeuer öffentlicher Polemik aus Politik, Wirtschaft und Medien niederging und am Ende — nach sieben Wochen Streik — doch ein „politischer Sieg“ der Gewerkschaften stand. Klaus Zwickel, für Tarifpolitik zuständiges Mitglied des IG- Metall-Vorstands, sieht den Unterschied zwischen der damaligen und der heutigen Tarifauseinandersetzung vor allem darin, daß ein derartiger politischer Sieg heute keineswegs gesichert ist: Wie damals stehen die Gewerkschaften unter einem immensen Druck. Aber die Bedingungen, unter denen sie sich durchsetzen müssen, haben sich seit damals radikal verändert.

Auf einem Seminar über „Arbeit und Demokratie — Gewerkschafts- und Tarifpolitik im neuen Europa“ in Lahnstein nannte Zwickel die Tarifrunde dieses Jahres die „erste Etappe eines neuen Verteilungskampfes“ zwischen Kapital und Arbeit. Es gehe diesmal nicht um das übliche Tarifgeplänkel zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, „nicht allein um ein paar Zehntel Prozent“. Alle Indizien der diesjährigen Tarifauseinandersetzung, vom Beinahe-Streik in der Stahlindustrie bis zu dem offensichtlichen Versuch der Arbeitgeber im Bankgewerbe, die Gewerkschaften am ausgestreckten Arm verhungern zu lassen und ihnen einseitig ein Lohndiktat aufzuzwingen, zeigten einen grundsätzlichen Strategiewechsel bei den Arbeitgebern. Dazu passe, daß die Metallarbeitgeber seit dem Wechsel in der Verbandsspitze zu Gesamtmetallpräsident Gottschol einen bisher akzeptierten Konsens aufgekündigt haben: Der Anspruch der Arbeitnehmer auf Inflationsausgleich wird nicht mehr akzeptiert, was bei vier bis fünf Prozent Preissteigerungen insbesondere für die unteren Lohngruppen auf massive Reallohnsenkungen hinausliefe.

Deutschland war bisher, so war der Tenor vieler Beiträge auf dem Seminar, für die Gewerkschaften eine Insel der Seligkeit, jedenfalls im Vergleich zu fast allen anderen Ländern Europas und der Welt. Bei langanhaltender wirtschaftlicher Prosperität konnte über Jahrzehnte der Massenwohlstand kontinuierlich gesteigert werden. Die Gewerkschaften haben über das Tarifrecht die Möglichkeit, durch freie Vereinbarung mit den Arbeitgebern unmittelbares Recht zu setzen und der übergroßen Mehrzahl der abhängig Beschäftigten gesicherte Lebensverhältnisse zu gewährleisten, zwischen ihnen und den Arbeitgebern gab es eine eingeschaukelte Machtbalance, die sich auch bei gelegentlichen Konflikten immer wieder auf beiderseits akzeptierte Kompromisse einpendelte.

Diese Machtbalance ist seit der deutschen Einheit und mehr noch mit der europäischen Einigung in Frage gestellt. In der Metallindustrie Ostdeutschlands liegt die reale Arbeitslosenquote bei 40 bis 45 Prozent. Die gewerkschaftliche Regelungskompetenz für die Lebensverhältnisse der Menschen wird durch die Massenarbeitslosigkeit ausgehöhlt, und das nicht nur in Ostdeutschland. Im zweiten Jahr der Einheit nutzen die Arbeitgeber diese Chance, um, so Zwickel, „die Unsicherheit als Stachel für die gesellschaftliche Leistungskraft“ zu steigern. Gleichzeitig zielen sie mit Blick auf EG 92 auf eine grundsätzliche Schwächung der Gewerkschaften, wie sie sich in vielen europäischen Nachbarstaaten in den letzten Jahren vollzogen hat.

Die Berliner Sozialwissenschaftlerin Birgit Mahnkopf sieht als wesentliche Leistung der Gewerkschaften in Deutschland und Europa, daß sie neben den allgemeinen politischen Bürgerrechten auch „allgemeine soziale Bürgerrechte“ zumindest dem Anspruch nach gesellschaftlich durchgesetzt hätten. Darin komme eine „europäische Spezifität“ gegenüber den beiden anderen auf dem Weltmarkt agierenden wirtschaftlichemn Zentren Japan und USA zum Ausdruck. Zwar gebe es auch in Europa große Unterschiede in der Realisierung derartiger Rechte, aber immerhin seien sie überall in Europa als gesellschaftliche Norm präsent. Dies, so Mahnkopf, solle nun offensichtlich unter dem Druck der Weltmarktkonkurrenz wieder rückgängig gemacht werden. Die Versuche, japanische Produktionskonzepte nach Europa zu übertragen, zielten im wesentlichen auf eine noch stärkere Trennung von privilegierten Kern- und diskriminierten Randbelegschaften, wobei für die letzten — wie in Japan— alle allgemeinverbindlichen sozialen Regelungssysteme entfallen. Die Lohnfindung solle wieder, anders als etwa bei den allgemeinverbindlichen tariflichen Regelungen der Bundesrepublik, unmittelbar an die Profitsituation der Einzelbetriebe gekoppelt werden.

Inwieweit eine intensivere europäische Kooperation der Gewerkschaften diesem „Erosionsprozeß industrieller Bürgerrechte“ entgegenwirken kann, blieb offen. Angesichts der unterschiedlichen gewerkschaftlichen Strukturen in den Ländern der Gemeinschaft geht Klaus Lang, Abteilungsleiter für Tarifpolitik beim IG-Metall-Vorstand, davon aus, daß es für die „nächsten zehn bis zwanzig Jahre“ bei nationaler Tarifpolitik bleiben werde, allerdings bei stärker werdenden internationalen Einflüssen. Wenn es allein bei der gegenwärtig vorangetriebenen Gründung internationaler Betriebsräte bei den Großkonzernen bleibe, drohe eine Japanisierung anderer Art: der Rückzug dieser Belegschaftsvertreter aus der allgemeinen gewerkschaftlichen Verantwortung auf ihr spezifisches Konzerninteresse.