Kommunalwahl
: Wo man sich im Beton noch wohl fühlt

■ Berlin vor den Kommunalwahlen (Folge 8): Marzahn/ In jeder Hinsicht superlativ

Marzahn. Am nordöstlichen Rand von Berlin, wo der Wind eisig durch die Häuserschluchten fegt, »Düseneffekt« nennen es die Anwohner, wo Beton-Tristesse kein Grün zur Geltung kommen läßt, wo vierspurige Autobahnen Schneisen durch die Wohngebiete ziehen und die Bewohner dennoch sagen: »Ich wohne gerne hier«, liegt Marzahn — einer der jüngsten Verwaltungsbezirke von Berlin.

In den siebziger Jahren wurde auf den Wiesen vor Berlin eine gigantische Neubausiedlung aus dem Boden gestampft — aus Betonplatten zusammengewuchtete Hochhäuser, in unterschiedlicher Höhe, jedoch in der immergleichen einfallslosen Form. 150.000 Menschen leben hier, es ist die größte Neubausiedlung der Bundesrepublik und so groß wie die Städte Rostock oder Schwerin. Eine der Hauptaufgaben der kommenden Jahre wird sein, aus dieser Masse an Wohnungen und Menschen eine wirkliche Stadt zu bilden— sonst sind die sozialen Konflikte, wie man sie aus anderen Trabantenstädten kennt, vorprogrammiert. Insgesamt wohnen im Verwaltungsbezirk Marzahn fast 170.000 Menschen. Das Durchschnittsalter liegt bei 31 Jahren, und die Ausbildung ist überdurchschnittlich gut. So haben von 1.000 Menschen im arbeitsfähigen Alter 900 einen Fachhochschul- oder Hochschulabschluß. Der Bezirksbürgermeister Andreas Röhl (SPD) ist optimistisch. Ein soziales Abgleiten der Bevölkerung sei in den nächsten Jahren unwahrscheinlich. So schnell sei, so Röhl, die Grundstruktur von Marzahn nicht aufzulösen. Noch gibt es in dem Bezirk nur 2.802 Sozialhilfeempfänger, und die Arbeitslosenquote liegt unter dem Ostberliner Durchschnitt von 16,4 Prozent. Demgegenüber steht jedoch die völlig desolate Infrastruktur für Jugendliche. Marzahn ist mit 33.000 Schülern, 60 Schulen und 3.000 Lehrern einer der größten Schulbezirke von Berlin. Doch da es an Räumen fehlt, gehen 1.500 Schüler in anderen Bezirken zur Schule — ein Problem, welches dringend gelöst werden muß. Aber auch in anderer Hinsicht ist dies ein Bezirk der Superlative. Es ist der Bezirk, in dem die meisten Staatsbediensteten und die meisten Zugezogenen aus der DDR wohnen. Mit 750 Hektar zwischen Friedrichsfelde Ost und Ahrensfelde ist Marzahn darüber hinaus das größte zusammenhängende Industrie- und Gewerbegebiet in Berlin. Das Ziel, mit dem die Bezirkspolitiker und -politikerinnen der Koalition aus CDU, SPD und Bündnis 90 vor zwei Jahren angetreten waren, ist der Ausbau des Bezirks zum Industrie- und Gewerbestandort sowie die Schaffung von Arbeitsplätzen. Dabei beklagen sie die schwerfällige Bürokratie und wünschen sich unorthodoxere Herangehensweisen.

Vor allem im Baubereich führen gekoppelte und doppelte Entscheidungsstrukturen zwischen Bezirksverwaltungen und Senatsressorts zu jahrelangen Planungsvorläufen, bis ein Projekt endlich realisiert werden kann. Erst wenn geklärt ist, wem die Fläche gehört, dem Land Berlin oder der Treuhand, kann der Eigentümer ein Verkehrswertgutachten in Auftrag geben, das den Bodenpreis bestimmt. Der Verkehrswert richtet sich nach der Flächennutzung, die im Bebauungsplan festgesetzt wird.

Bebauungspläne gibt es jedoch, zum Unmut der Wirtschaftsstadträtin Ines Saager (bündnisnah), für Marzahn noch nicht. Ohne diese Pläne kann sie den Unternehmen auch nichts Genaues über die Quadratmeterpreise sagen — und das, obwohl die Planung für das Gewerbe- und Industriegebiet nahezu abgeschlossen sei. »Wir haben Anfragen«, so Saager, »von über 20 Firmen, die sich hier ansiedeln wollen — High-Tech, Druckereien, Computer-Unternehmen, textil-, metall- und holzverarbeitende Industrie, Kühlanlagenbau, Großhandel und die Knorrbremse.« Trotzdem bekomme sie »niemanden hierher«.

Nach zwei Jahren zieht die Wirtschaftsstadträtin Bilanz. »Wir planen zuviel und handeln zuwenig«, kritisiert sie, »und das, was wir durchsetzen, reicht einfach nicht aus.« Die Wirtschaftsexpertin schiebt den Schwarzen Peter allerdings auch der Baustadträtin Ursel Liekweg (SPD) zu, der sie mangelnde Entscheidungsfreude vorwirft. Liekweg hält dagegen, das Tempo hätte nicht durchgehalten werden können, da dringend notwendige Stellen in den Ämtern nicht besetzt werden konnten. Die Aufstellungsbeschlüsse für Bebauungspläne lägen jetzt zur Abstimmung in der BVV vor.

Die Folge dieser »Bauverhinderungspolitik« sei wiederum, so Ines Saager, daß konkrete Investitionsanfragen seit Monaten auf Eis lägen. Bauvoranfragen werden wegen fehlender Planungsaussagen negativ beschieden. Liekweg ist empört über das Vorgehen ihrer Kollegin und weist die Vorwürfe energisch zurück. »Wir haben hier alle Hände voll zu tun, das Boot oben zu halten«, sagt sie. Außerdem finde sie es »unmöglich«, mit solchen populistischen Maßnahmen nach vorne zu preschen. »Gebaut wird nicht von heute auf morgen, auch wenn die Eigentumsverhältnisse klar sind. Denn es muß auch ökologisch gedacht werden.« Überdies gebe das ein »riesiges Diskussions- und Abstimmungsbedürfnis« der Bezirksverordnetenversammlung. Man könne nicht alles übers Knie brechen. Man müsse eben auch abwägen zwischen Investoren, Arbeitsplatzbeschaffung, Umweltverträglichkeit und Imagepflege. Zum Beispiel habe ein Wurstfabrikant bei der Wirtschaftsverwaltung Interesse an Marzahn gezeigt. »Nun ist ja eine Wurstfabrik nicht gerade das intelligenteste Gewerbe, und es müsse erst mal geprüft werden, ob zum Beispiel das Bundesimmissionschutzgesetz eingehalten würde.«

Vielleicht hätte im Baubereich einiges schneller gehen können, resümierte der CDU-Fraktionsvorsitzende Christian Klahr, doch sieht auch er das Problem im Personalmangel. Darüber hinaus hätten der Senat und die Treuhand einige grundsätzliche Entscheidungen noch nicht getroffen, auf die es jedoch ankomme, zumal das letzte Wort bei der Ansiedlung von Unternehmen beim Wirtschaftssenator liege. Klahr versucht die Wogen zu glätten. Im Prinzip standen Sachfragen immer vor Parteipolitik, das gelte sogar — mit Abstrichen zwar — für die PDS, der stärksten Fraktion in der BVV. In den vergangenen zweieinhalb Jahren hätten alle Beteiligten, Bezirksamtmitglieder und Abgeordnete, Enormes geleistet. »Wir mußten vieles erst lernen.« Nach der Wahl im Mai wird wohl einiges einfacher werden, hofft er. Seine Sorge gilt aber dem Wahlverhalten der jüngeren Menschen in Marzahn. Da nun auch die »Republikaner« zur Wahl antreten können, befürchtet er, daß die Reps vom Stimmenverlust der PDS profitieren würden. Michaela Eck