SZENEN EINER KLEINSTADT Von Connie Kolb

Es muß endlich mal was über eine Stadt namens Herne geschrieben werden. Denn 180.000 können sich schließlich nicht irren — trotz des Namens. H-E-R-N-E. Das Wort allein läßt den Unterkiefer bei der Aussprache schon so schwerfällig abklappen, daß es noch nicht mal bis zum Kurzzeitgedächtnis gelangt. Dabei könnte Herne eigentlich einer der zentralen Knotenpunkte im Ruhrgebiet sein.

Genau zwischen Bochum und Recklinghausen gelegen, hat sich die Stadt ihre 52 Quadratkilometer mit imposant-hochgezogenen Selbstmordwohnsilos noch recht grünflächig erhalten können. Daneben stehen ansehnliche Jugendstil-Villen im Schatten dieser babelturmähnlichen Neubauwohnungen — wenn die Sonne überhaupt mal durch den ewigen Dunstschleier der tiefer gelegenen Siedlung bricht.

Dennoch, Herne versucht zu bieten, was man von einer deutsche Ortschaft mit modern erschlossener Infrastruktur erwarten kann: Tankstellen, so weit das Auge reicht, einen McDonald's mit Haute-Cuisine- Wartezeiten und einen Hauptbahnhof, an dem sogar sonntags Züge verkehren, Currywurstbuden, Pizzerien, Eissalons, Solarien und das Schloß Stünkede — alles da, um sich selbst genug zu sein und auf den Rest der Welt zu verzichten.

Zweimal im Jahr jedoch öffnet Herne der Welt die Türen und überrascht mit einem einmaligen Kulturschock. Im riesigen Gysenbergpark steht neben Bäumen und Betonbunkern mit diversen Freizeitofferten auch die Kulturhalle, deren Mega- Konzerte sogar außerhalb der offenen Stadtgrenzen viele zeitlich stehengebliebene Herzen erfreut. Nirgends sonst können ausgelaugte Mechaniker aus den Opelwerken die Oldie-Hits von Suzi Quattro, The Mammas & Papas sowie The Lords nach so langer Zeit noch so oft live erleben. Für den Rest des Jahres gibt sich Herne dann wieder zugeknöpft und baut auf die Sicherheit seines verzwickten Verkehrssystems rund um den Stadtkern. Hier war nichts zu teuer, um die Fahnenflucht zu erschweren oder Eindringlinge geschickt vom heiligen Zentrum fernzuhalten.

Obwohl die Freizeit in Form einer Hauptstraße nach Bochum nach nur zwei Kilometern von der Stadtmitte winkt, wird die Ausfahrt zu einem 20minütigen Leidensweg für Fahrer und Fahrzeug.

Genau zehn Ampeln schalten nacheinander für je vier Minuten auf Rot, um durchschnittlich drei Autos die Kreuzungen überqueren zu lassen. Herne kann sich also rühmen, ohne kostspielige Verkehrsschilder Tempo 30 etabliert zu haben. Endlich, nach erfolgreichem Durchbringen des Gefährts über eine 20 Meter lange Schlaglöchergrube, heißt es freie Fahrt ins feindliche Ausland.

Doch selbst reuige Rückkehrer müssen büßen: Trotz des rapide abflauenden Verkehrsaufkommens nach 18.30 Uhr treibt die Ampelschaltung noch tief in der Nacht die städtischen Stromkosten in die Höhe und die Geduld in den Keller.

Der echte Herner dagegen, zu erkennen an einem ungewöhlich röhrigen Timbre, ähnlich dem Grubenecho, bleibt schließlich daheim. Er benutzt auch nie die vollautomatische U-Bahn, die geradewegs nach Bochum rettet. Er lauert als Verkäufer in den kleinen, muffigen Zigaretten- und Zeitungsläden der vergammelten Straßen und bringt den unbekümmerten Kunden mit einer detaillierten Schilderung seiner Erlebnisarmut um den Rest des Tages — wie im richtigen Kleinstadtleben eben.