KOMMENTARE
: Erklärungsbedarf

■ Der Bundestag hob die Immunität seines Abgeordneten Hans Modrow auf

Wann immer ein PDS-Abgeordneter zum Objekt seiner Parlamentskollegen wird, beschleicht einen neuerdings Unbehagen. Seit nach dem Selbstmord Gerd Rieges dessen Redeprotokolle aus dem Bundestag veröffentlicht wurden, läßt sich nicht mehr ignorieren, zu welcher Niedertracht sich frei gewählte Volksvertreter hinreißen lassen, wenn es um die Diskreditierung ihrer politischen Gegner aus der SED-Nachfolgepartei geht. Dabei bestätigen nicht nur die infamen Zwischenrufer von den christlichen Hinterbänken auf deprimierende Weise die Vorbehalte gegen die Bonner Parlamentskultur, sondern auch die Abgeordneten, die — sonst allzuständig für den Zusammenhang von Politik und Moral — die Behandlung ihrer PDS-Kollegen schweigend tolerieren. Solches Verhalten nimmt der PDS-internen Interpretation, mit der gestrigen Aufhebung der parlamentarischen Immunität werde ein „politischer Schauprozeß“ vorbereitet, nichts von ihrer Absurdität; doch die Atmosphäre im Bonner Parlament leuchtet den Hintergrund aus, vor dem der politische Opfer-Mythos der PDS prächtig gedeiht.

Kaum überraschend, daß das Ansinnen der Dresdner Staatsanwaltschaft, die Immunität Modrows aufzuheben, in Bonn eine breite Mehrheit fand. Angesichts des parteiübergreifenden politischen Konsenses, der die Aufarbeitung der DDR- Vergangenheit als herausragende Sache der bundesdeutschen Justiz begreift, war die gestrige Entscheidung nur konsequent. Dennoch ist es schade, daß kein Abgeordneter sich bereit fand, sein gestriges Votum zu begründen und zugleich die weitverbreitete Wertschätzung zu thematisieren, die dem Politiker Hans Modrow noch im Herbst 1989 von bundesdeutscher Seite entgegengebracht wurde. Denn wie einer von „Gorbatschows Mann für die DDR“, vom angehenden Verhandlungspartner für eine deutsche Konföderation auf den Wahlfälscher — der er wohl gleichzeitig war — reduziert werden kann, das bedarf der Erklärung. Nicht nur die Vergehen Modrows, auch die Wendungen der Bonner Politik stehen zur Debatte. Auch daraus hätte ein Beitrag zur parlamentarischen Kultur werden können. Doch in Bonn herrschen Selbstgefälligkeit und kurzes Gedächtnis. Verantwortung ist immer die der anderen. Solange jeder glatte Schuldspruch gegen die eine Seite auf der unverschämten Verdrängungsbereitschaft der anderen basiert, wird die vielbeschworene Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit über die Farce nicht hinauskommen. Matthias Geis