Kumulierter Wahn

■ In China soll der größte Staudamm der Welt entstehen

Kumulierter Wahn In China soll der größte Staudamm der Welt entstehen

Wer weiß, wie es in den Herzen und Köpfen chinesischer Abgeordneter aussieht? Nach dem brutalen Ende der relativen Diskussions- und Informationsfreiheit in China im Juni 1989 ist die Frage schwer zu beantworten. Privat machen einige aus ihrem Herzen keine Mördergrube, doch kann sich Kritik an der Partei kaum in politische Handlung umsetzen. Die gleichen Leute, die noch 1989 im Nationalen Volkskongreß das Staudammprojekt verhinderten, werden wahrscheinlich diesmal ihre Zustimmung geben.

Bei der Analyse der chinesischen Politik sind „Chinawatcher“ wieder auf Spekulationen zurückgeworfen. Doch nimmt niemand ernsthaft an, daß es gegenwärtig in China eine politische Kraft gibt, die der Forderung nach politischer Liberalisierung Nachdruck verleihen könnte. Darum geht es auch in den Debatten nicht, die jüngst im Parteiorgan 'Volkszeitung‘ zwischen „Reformern“ und „Hardlinern“ geführt wurden.

Deng Xiaopings Forderung nach „Nutzbarmachung kapitalistischer Elemente“ ist nur die Formulierung dessen, was derzeit praktisch sowieso geschieht. Er wiederholt sein Katzenargument aus den siebziger Jahren: Die Farbe ist egal, Hauptsache, sie fängt Mäuse. Und das heißt, sie schafft die ökonomischen Bedingungen für den politischen Machterhalt. China ist gegenwärtig das erfolgreichste Laboratorium für Experimente mit freier Marktwirtschaft in einem totalitären System, schrieb kürzlich ein Kommentator. „In China geht es genau umgekehrt wie in der ehemaligen UdSSR“, erklärte ein Mitglied eines der Wirtschaftsinstitute, die bis 1989 den ehemaligen KP- Chef Zhao Ziyang berieten, „kapitalistische Formen und Experimente entwickeln sich von unten. Man darf es nur nicht so nennen. Erst das Aussprechen macht es zum Politikum und ruft die Hardliner in der KP auf den Plan.“ Und so lange, wie sich die ökonomischen Lebensbedingungen eines großen Teils der chinesischen Bevölkerung innerhalb dieses Systems verbessern, können Deng Xiaoping und sogar der unbeliebte Li Peng damit rechnen, daß sich politische Opposition nicht organisiert.

Welche dramatischen Folgen dies jedoch haben kann, zeigt sich nicht nur in der Frage der Menschenrechte. Die ProtagonistInnen der — winzigen — kritischen ökologischen Diskussion wurden verhaftet, sind im inneren oder äußeren Exil. In einer monatelangen Medienkampagne hat die Regierung der Bevölkerung eingehämmert, daß das Lieblingsprojekt Li Pengs Überschwemmungen verhindert, Energie produziert und Wasservorräte für den von Dürre heimgesuchten Norden schafft. Gegeninformationen gab es nicht. Die vorhersehbaren ökologischen und sozialen Folgekosten wird die Riege in Peking wohl auch nicht mehr erleben. Jutta Lietsch