»Der Geist meines Überlebens«

■ Sally Perel in Berlin — Überlegungen zum Phänomen »Hitlerjunge Salomon«

Am ersten Tag der Schule hatte ich mich also geduscht und war in meiner neuen Uniform gutgelaunt auf das Zimmer zurückgekehrt. Wie oft hatte ich sagen hören: ‘Der Schein trügt!‚ Jetzt aber stellte ich fest, daß genau das Gegenteil zutraf. Ruhig und sorgfältig hatte ich die schreckliche Uniform angelegt und vor dem Spiegel zu mir gesagt: ‘Schloimele, bist du es?‚«

Salomon Perel, aus dessen Autobiographie Ich war Hitlerjunge Salomon diese Zeilen stammen, ist für das hiesige Publikum ein Phänomen — noch bevor er als Person überhaupt wahrgenommen werden kann. Zur öffentlichen Person machte ihn der Film Hitlerjunge Salomon einerseits, dessen internationale Rezeption andererseits. Für das Berliner Publikum kommt hinzu, daß hier durch die Ausstellung Jüdische Lebenswelten im Martin-Gropius-Bau eine erhöhte Diskussionsbereitschaft für Judaica im allgemeinen und — vielleicht typisch für diese Stadt — speziell das Biographische darin besteht. Wie sehr der Diskussionsbereitschaft in bezug auf die Frage »Wer oder was ist eigentlich ein Jude« gewachsen ist, zeigt sich daran, daß auch ein so grotesker Lebenslauf wie der von Salomon Perel inzwischen die allgemeine Phantasie anregt.

Kurz zur Person: Perel, der in Berlin bloß Zwischenstation auf dem Weg nach Los Angeles macht (wetten, daß er den Oskar für das beste Drehbuch bekommt?) ist 1925 in Peine geboren, wurde im Krieg von seiner Familie getrennt, landete erst in einem kommunistischen Waisenheim, wo er überzeugter Komsomol wurde. Dann verschlug es ihn später zur Hitlerjugend, wo er als Josef Perjell in Deutschland überlebte. Nach dem Krieg wanderte er nach Israel aus.

Der Film, die Diskussionen darüber und das Interesse an der Figur Salomon Perel, wie sie nun von den Medien gefeatured wird, markieren ein ähnliches Problem, wie es von der Holocaust-Serie und dem Film Shoah aufgeworfen wurde — das der ästhetischen Repräsentation der Judenvernichtung. Will man diesem Einschnitt auf die Spur kommen, muß man die drei Mosaikstückchen gegeneinander drehen und wenden.

An den Querelen um die Oskar- Nominierung des Films sind auch diejenigen beteiligt, die ihn nie gesehen haben: Die deutsche Auswahlkommission hat es, nachdem der Film in Amerika bereits sowohl bei Kritikern als auch beim Publikum großen Erfolg gehabt hatte, abgelehnt, Hitlerjunge Salomon vorzuschlagen. Die Begründung: Er sei eine ästhetisch schwache internationale Koproduktion und kein explizit deutscher Beitrag.

Daraufhin beschuldigte die polnische Regisseurin Agnieska Holland, Drehbuchautorin des ebenfalls umstrittenen Wajda-Films Korszak, die Deutschen der Fremdenfeindlichkeit und der Arroganz, ein Vorwurf, der von den amerikanischen Medien mit Antisemitismus übersetzt wurde. Hellmuth Karasek gab hingegen im 'Spiegel‘ zu bedenken, es seien gerade deutsche Philosemiten, die den Film ablehnten. Sie könnten das Bild eines Juden nicht ertragen, der »zynisch und opportunistisch« handele, um seine Haut zu retten, und der, »wenn sein beschnittener Penis ihn nicht verraten würde«, auch »seiner Geilheit auf blonde deutsche Mädels« nachgeben würde.

Gertrud Koch wiederum, die den Film für die 'Frankfurter Rundschau‘ besprach, las ihn als Allegorie auf die Situation der osteuropäischen Länder zwischen zwei Totalitarismen: »Hitler und Stalin, bei Holland zum Tänzchen vereint, das als danse macabre zweier gestürzter Systeme mehr ist als die aktuelle Anspielung eines jugendlichen Träumers auf den Hitler- Stalin-Pakt... Der Totalitarismus entläßt seine unschuldigen Kinder in die Freiheit des Westens, der Preis des Überlebens war hoch, nämlich die Aufgabe der moralischen Freiheit.«

So prononciert hat der große Rest der Filmkritiker nicht reagiert. Der Großteil lehnte den Film seiner ästhetischen Schwächen wegen ab — eine Position, die Koch als Hilflosigkeit interpretiert. Vielleicht ist sie aber doch mehr: nämlich Ausdruck berechtigter Skrupel vor bestimmten Formen der (Melo-)Dramatisierung des Holocaust, wie man sie von der Holocaust-Serie aus dem Fernsehen kennt.

Der Zweite Weltkrieg gibt in Hollands Film nicht mehr ab als ein Hintergrundspektakel aus verschiedenen Kostümen (Uniformen), brennenden Scheunen, Schützengräben und phallischen Albert-Speer-Gebäuden, zwischen denen der schöne Tor mit schlafwandlerischer Sicherheit der stets ihn persönlich bedrohenden Vernichtung entgehen kann. Indem speziell bei seiner Odyssee durch deutsche Bataillone und Zuchtanstalten die Erzählung und die Kamera ständig um seinen beschnittenen Penis kreisen, auf den schwule Offiziere, dickbusige Nazi-Matronen und blondbezopfte Mädels gleichermaßen fliegen, erscheint der Faschismus als Abenteuerspielplatz einer verklemmten, überhitzten Untertanen-Sexualität. Damit wird er enthistorisiert und seines Schreckens beraubt.

Doch noch in seinem unhistorischen Vorgehen berührt der Film — eher unfreiwillig — einen Problemzusammenhang, der in der Selbstdarstellung jüdischen Lebens immer wiederkehrt: Während die Orthodoxie des Elternhauses als düster-mystisches Höhlendasein erscheint, verkörpert »Sally« die Identifikation des Jüdischen mit dem Weiblich-Weichen, Opportunistischen, Sinnlichen und Übersexualisierten.

Das Thema des Chamäleonhaften an der Existenz eines Volkes ohne Nation war etwa in Woody Allens Film Zelig zu sehen, in dem der Protagonist qua seiner Natur die Gestalt seines Gegenübers annahm, ob er wollte oder nicht. Daß diese Gestalt auch die eines Nazis sein kann, hat man schon bei Chaplin und Lubitsch gesehen (in Der große Diktator und Sein oder Nichtsein).

Auf diesen Aspekt der spezifisch jüdischen Erfahrung Europas als Ort eines Identitätsfiaskos hebt auch der New Yorker Kritiker Jim Hoberman ab, wenn er in der 'Village Voice‘ den Film Hitlerjunge Salomon zu einem der besten des Jahres 1991 erklärt: »Obwohl sie sich im Ton sehr unterscheiden, folgt Hitlerjunge Salomon doch dem Film Shoah in seiner existentialistischen Darstellung des Holocaust. Ohne ein Urteil zu fällen, beschreibt Holland das Sichdurchschlagen als ein universelles Schicksal. Indem der entwurzelte Held Zuflucht in wechselnden Ideologien und nationalen Identitäten sucht, stellt der Film eine Allegorie auf die jüdische Erfahrung des modernen Europa dar.«

In der Tat muß man dem Film — und der Autobiographie — zugute halten, daß sie Identität als etwas sozial Konstruiertes, vom »Gegenüber« Abhängiges, nicht etwa Naturgegebenes oder gar biologisch Vererbtes betrachtet.

Gefeiert wird in beiden aber auch der Triumph des Individuums über das Schicksal der Masse (Sally wird des öfteren als »Diamant unter menschlichem Mist« bezeichnet) — für die meisten Überlebenden des Holocaust eine Quelle ständiger Schuldgefühle.

Bei Perels Lesung im Kaminzimmer des Berliner Literaturhauses war von solchen Schuldgefühlen wenig zu spüren. Hat man sich schon in dem Film gefragt, wo eigentlich der Preis bleibt, den ein Mensch für solche Camouflage doch wohl bezahlen muß, so bestärkt der Auftritt dieses gelassenen, routiniert und launigen Mannes aus Israel die Verwunderung. Immer wieder wird er gefragt, was er denn von den massiven Veränderungen hält, die der Film an seiner Biographie vorgenommen hat. Daß zum Beispiel seine Schwester nicht in der »Kristallnacht« erschlagen (und dann auf dem Familientisch aufgebahrt), sondern im Frauen-Konzentrationslager Stutthoff erschossen wurde, nachdem ihr auf dem Todesmarsch die Füße eingefroren waren. Oder daß er seinen Bruder nicht im KZ, sondern in München wiedergetroffen hat. Perel meint dazu nur, es sei doch nicht so wichtig, wo und wie sich alles im einzelnen zugetragen habe. Hauptsache, der »Geist meines Überlebens« finde sich darin wieder.

Vielleicht ist diese gespenstische Gelassenheit um Umgang mit den Ereignissen der Preis, den man für das »Sichdurchschlagen« zahlt. Wiederholt spricht Perel von »dem Jupp in mir«, der ab und zu durchbreche. Er scheint sich mitunter selbst als das Kuriosum zu betrachten, als das er gehandelt wird. Gleichzeitig spricht seine stets betonte Erklärung »Ich konnte doch nicht anders als die schreckliche Uniform anzuziehen« hierzulande natürlich vielen aus der Seele. Daß die Verfilmung einer Pikareske des Überlebens in Nazi- Deutschland heute so viel erfolgreicher ist als der ungleich düsterere und ästhetisch differenziertere Shoah, zeigt, daß die Bereitschaft, sich mit dem Preis des Überlebens auseinanderzusetzen, eben doch noch begrenzt ist. Mariam Niroumand