»Brüder, zur Sonne, zur Freiheit...«

■ Um die tausend Menschen kamen gestern zur Trauerfeier für den populären Sozialdemokraten Harry Ristock

Berlin. »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit — Brüder zum Lichte empor«, spielte die Kapelle, sehr langsam und getragen, zum Schluß. Es war das Lied, das zu Harry Ristock paßte wie kein anderes, wie es sein langjähriger Freund, der 'Spiegel‘-Redakteur Fritjof Meyer gestern auf der Beerdigungsfeier des populären SPD-Politikers sagte. Abschied von Harry Ristock, der am 5.März nach einer Operation gestorben war, nahmen um die tausend Menschen in der Kapelle des Krematoriums Ruhleben: Viele Mitarbeiter der Senatsbauverwaltung, deren Chef Ristock einst war, viele Architekten und Stadtplaner, vor allem aber Sozialdemokraten aus Ost und West: Der Landesvorsitzende Walter Momper, der Fraktionsvorsitzende Ditmar Staffelt, die Bundespolitiker Hans-Jochen Vogel und Wolfgang Thierse, Ristocks Vorgänger als Bausenator, Klaus Riebschläger und viele einfache Parteimitglieder. Auch Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) und CDU-Schatzmeister Jürgen Wohlrabe, der AL-nahe ehemalige Kreuzberger Baustadtrat Werner Orlowsky, der ehemalige FDP-Vorsitzende Wolfgang Lüder und der PDS-Ehrenvorsitzende Hans Modrow waren gekommen, um der Rede Meyers und des Alt-Bundeskanzlers Helmut Schmidt zu lauschen. Im Vorraum der Kapelle und noch davor im Freien drängten sich trotz des ab und zu einsetzenden Nieselregens noch viele, auch junge Menschen. Einige hatten Tränen in den Augen, und manche hielten rote Rosen oder Nelken in den Händen, um sie an den überreich mit Kränzen umgebenen Sarg zu legen. Sogar einige Jungen mit blauen FDJ-Hemden legten, von den Ordnern mißtrauisch beäugt, Blumen am Sarg nieder.

»Wir haben ein Feuer verloren für die Arbeiterbewegung«, würdigte sein Freund Fritjof Meyer den mit 64 Jahren überraschend verstorbenen Ristock. Ristock, so Meyer, liebte die Menschen, und er wollte für alle menschenwürdige Lebensbedingungen schaffen. Er hatte Freunde überall, »außer bei den politisch äußersten Rechten«. Der »parlamentarische Sozialist Ristock«, zuletzt für die SPD im Abgeordnetenhaus, sei immer der Meinung gewesen, daß nur demokratischer Sozialismus wirklich Sozialismus sein könne, sagte Meyer, wobei Ristock aber immer mit den herrschenden Sozialisten in der DDR im Gespräch geblieben sei. Berlin, das mit »Sozialisten stets hart umgegangen war«, sei dem aus Ostpreußen stammenden Harry Ristock zur Heimat geworden. Meyer erinnerte daran, daß Ristock schon in den fünfziger Jahren gegen den kalten Krieg Stellung bezogen habe. Der Sozialdemokrat, damals Schulstadtrat von Charlottenburg, hatte gegen den Vietnamkrieg der Amerikaner protestiert wie auch gegen den Einmarsch der Russen in Prag.

Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt betonte, daß Ristock Anti-Stalinist gewesen sei und gegen den Kommunismus gekämpft habe. »Ich habe ihn bewundert, und manchmal war auch ein Tröpfchen Neid dabei«, sagte Schmidt über den lebenslustigen Ristock, konnte sich aber ein paar Seitenhiebe nicht verkneifen: Ristock sei von den Intellektuellen der 68er Generation politisch vereinnahmt worden, ohne wirklich zu ihnen zu gehören. Jemand wie Ristock, mit dem man stundenlang kontrovers habe diskutieren können, sei ihm lieber als jene Sozialdemokraten, die von der Uni weg ihre Karriere planen würden. Der »Heimatvertriebene« Ristock, so Schmidt, habe vor allem die Aussöhnung mit Polen betrieben und etwa Fahrten in das Konzentrationslager Auschwitz organisiert. Der polnische Orden, den Ristock dafür bekommen hatte, sei der einzige gewesen, den er wichtig genommen habe, erzählte Schmidt. Eva Schweitzer