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KOMMENTARDas Elend in kalten Zahlen

■ Selbstmordrate im Ostteil der Stadt nimmt zu

Statistiken langweilen, animieren zum Wegsehen und Weghören. Mag sein, daß sie beim Widerlegen oder Untermauern bestimmter Argumente hilfreiche Dienste leisten können. Es bleibt jedoch erst mal nichts anderes als die kalte, nüchterne Feststellung, so und so viele von so und so vielen sind: arbeitslos, auf den Straßen verunglückt oder haben sich selbst umgebracht. Gerade aber angesichts der virulenten Unsicherheitsgefühle in Berlin, die sich zwangsläufig in den Statistiken spiegeln, sollte man sich bei manchen Zahlen dennoch fragen, welche Menschen dahinter stehen. Wie auf einer Pressekonferenz der kirchlichen Telefonseelsorge zu erfahren war, steigen die Zahlen der Suizide und der suizidgefährdeten Menschen im Ostteil der Stadt drastisch an.

Doch dem Senat sind drei Telefonseelsorgen in der Stadt zu viel. Man fragt sich, wofür diese unzähligen Recherchen zur statistischen Erfassung überhaupt gemacht werden, wenn sie angesichts steigender Selbstmordraten einfach ignoriert werden. Was treibt einen Menschen dazu, endgültig Schluß zu machen? Wie weit muß die Selbstzerstörung schon fortgeschritten sein? Nun hat der gesellschaftliche Umbruch mit all seinen Folgen wie Arbeitslosigkeit, ungezügelte Konsumfreuden und fehlende gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit vielen Menschen den Boden unter den Füßen weggerissen. Was sich nicht nur in letztlich vollzogenen Selbstmorden manifestiert, sondern auch als Aggression gegen sich und andere. Als Beispiele seien die S-Bahn-Surfer genannt, die Jugendlichen, die aus Langeweile, Zerstörungswut oder einfach Übermut andere Kinder mit Benzin übergießen und anzünden, der steigende Tabletten- und Alkoholkonsum. Hier ist jedoch mehr gefordert als seelsorgerischer Trost. Hier ist der Sozialstaat in die Pflicht genommen. Soziale Projekte und Angebote müssen ausgebaut werden, damit sich der Boden unter den Menschen in dieser Stadt wieder schließen kann. Ansonsten sind Zahlen in Statistiken nur zynisch. Michaela Eck

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