Stasi-Vergangenheit erhöht Suizidgefahr

■ Bei jedem fünften Anruf der kirchlichen Telefonseelsorge spielt möglicher Stasi-Verdacht eine Rolle/ Im Ostteil wächst die Gefahr der Selbsttötung

Berlin. Immer häufiger spielen Berliner aus dem Ostteil der Stadt mit dem Gedanken, sich zu töten. Neben Gründen wie drohendem Arbeitsplatzverlust, Wohnungslosigkeit und Wertewandel spielt zunehmend die Vergangenheitsbewältigung eine Rolle. Uwe Müller von der »Kirchlichen Telefonseelsorge« (KTS) berichtete gestern, daß jeder fünfte Anrufer schwer verunsichert gewesen sei, weil er nicht wußte, ob er von der ehemaligen Staatssicherheit der DDR als »informeller Mitarbeiter« (IM) geführt wurde.

Es gebe eine permanente Angst davor, daß sich durch den Verdacht selbst ungewollter und unbemerkter Zuarbeit für die Stasi das soziale Umfeld ändern, Freunde und Bekannte sich zurückziehen könnten, führte Müller weiter aus. Inzwischen wüßten suizidgefährdete Anrufer nicht einmal mehr, ob sie das Recht auf Akteneinsicht bei der Gauck-Behörde wahrnehmen sollten, denn »vielleicht erfahre ich Dinge, die ich nicht wissen will«, so Müller.

Dieses Jahr rechnet die KTS, die vor vier Jahren ihre Arbeit aufnahm, mit 12.000 bis 14.000 Anrufen. Im vergangenen Jahr, als man das Notruftelefon nur von 18 bis 6 Uhr anrufen konnte, wählten 7.000 Menschen die Ostberliner Nummer — doppelt so viele wie 1990. Das Thema Selbstmord habe im Frühjahr des vergangenen Jahres bei jedem dritten Anruf eine Rolle gespielt. Im gesamten Jahr tauchte es in neun Prozent der Gespräche auf. International liege die Rate bei fünf Prozent, sagt Kirchenrat Hans-Dietrich Schneider, Direktor im Diakonischen Werk Berlin- Brandenburg.

Vor der Wende war das Verhältnis zwischen hilfesuchenden Frauen und Männern nahezu gleich, jetzt seien von drei Anrufern zwei Frauen. Müller erklärt sich die Zunahme damit, daß Frauen zu einer Änderung ihres Rollenverhaltens gedrängt werden. Sie sollten »zurück an den Herd«.

Die Charlottenburger »Telefonseelsorge Berlin«, die ganztags zwei Telefone besetzt hält, wurde im vergangenen Jahr 22.000mal frequentiert. 40 Prozent der Anrufer waren suizidgefährdet, 915 Anrufer hatten Selbsttötungen bereits vorbereitet oder eingeleitet. Geschäftsführer Jürgen Hesse berichtet, daß zwar die Zahl der »massiv Suizidgefährdeten« auch im Westteil der Stadt zunehme, die tatsächliche Zahl der Selbsttötungen von 1989 auf 1990 aber konstant geblieben sei. Im Ostteil sei sie im gleichen Zeitraum bei Männern um 16,5 Prozent, bei Frauen um 38,1 Prozent gestiegen. In den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres töteten sich 600 Menschen.

Schneider fordert, daß der Senat einen Teil des 210.000 Mark umfassenden Etats der kirchlichen Telefonseelsorge trage. Die »Telefonseelsorge Berlin« (600.000 Mark) werde mit 170.000 Mark bezuschußt, die 400.000 Mark des »Telefon des Vertrauens«, daß damals von der SED in Konkurrenz zur Kirchlichen Hilfe gegründet wurde, werden ganz bezahlt. Über die Finanzierung soll im Mai entschieden werden, kündigt Gisela Klages, Sprecherin der Gesundheitsverwaltung, an. Das Abgeordnetenhaus wolle aber, daß »unterm Strich« nur zwei Notruftelefone übrigbleiben. Dirk Wildt