■ ALLTAG IN MEXICOS HAUPTSTADT: ZWANZIG MILLIONEN MENSCHEN IN EINEM GIFTTOPF
: "Schließt Euch ein: Wir stehen am Rande einer Katastrophe"

„Schließt Euch ein: Wir stehen am Rande einer Katastrophe“

Mexico-Stadt (taz) — Am vergangenen Montag war in Mexico-Stadt mit 398 Punkten auf der dort geltenden IMECA-Skala der bisher höchste Ozongehalt gemessen worden. Das ist das Vierfache der internationalen Norm. Die Menschen versuchten trotz Atembeschwerden, Kopfschmerz und stetigem Brechreiz ihren normalen Tätigkeiten nachzugehen. Was sie nicht wußten: der Krisenstab des Umweltministeriums saß bereits seit Stunden mit dem Bürgermeister von Mexico-City zusammen, um zu beratschlagen, was zu unternehmen sei. „Schließt euch zu Hause ein“, warnte ein Mitarbeiter des Umweltministeriums seine Familie über Telefon, „wir stehen am Rande einer Katastrophe, die Ozonwerte liegen weit höher als es die Regierung zugeben will.“ Erst am späten Nachmittag kündigte der Bürgermeister und ehemalige Umweltminister Manuel Camacho Solis der Öffentlichkeit das teilweise Inkrafttreten der StufeII eines sogenannten Notstandsplanes an.

Dienstag blieben die Schulen geschlossen, Eltern wurden angewiesen, ihre Kinder zu Hause einzuschließen, 200 der meistverschmutzenden Fabriken sollten ihren Betrieb um 50Prozent reduzieren, und rund eine Million Fahrzeuge wurden aus dem Verkehr gezogen. Für andere, im Plan ebenfalls vorgesehene Maßnahmen, wie das Schließen von Regierungsbüros, staatlichen Einrichtungen und Einkaufszentren, sah die Regierung keinerlei Veranlassung. Obwohl die Ozonwerte gerade erst um die Hälfte zurückgegangen waren, die Stadt weiterhin in milchig-bleichem Sonnenlicht lag, wurde der Notstandsplan bereits nach 24 Stunden aufgehoben. Man klopfte sich gegenseitig auf die Schulter, „wenige Stadtverwaltungen auf der Welt“, meinte Camacho stolz, „sind wohl in der Lage, von einem Moment auf den anderen über eine Million Fahrzeuge zum Stillstand zu bringen.“ „Der Plan funktioniert“, jubelte Jorge Gonzales Torres, Präsident der Umweltpartei Mexikos, die immer mehr ihrem Ruf Ehre macht, ein ökologischer Ableger der seit über 63 Jahren regierenden Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) zu sein.

Im Laufe des Vorjahres hatte der mexikanische Präsident Carlos Salinas de Gortari wiederholt neue, seiner Ansicht nach drastische Maßnahmen angekündigt, um die Luftverschmutzung nach hiesigen Verhältnissen in „akzeptablen“ Grenzen zu halten. Regelmäßige Abgasmessungen, bleifreies Benzin, ein autofreier Tag und eine stärkere Kontrolle der über 30.000 Industriebetriebe haben zwar eine leichte Verminderung von Kohlenmonoxid, Blei und Schwefeldioxid in der Atemluft bewirkt, zur Lösung des Ozonproblems in der Hauptadt jedoch nicht beitragen können. „Im besten Falle“, meinte vor kurzem Camacho Solis, „können wir versuchen, ein Ansteigen der Ozonwerte zu bremsen, aber wir werden weiterhin schwierige Momente erleben.“

Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) dürfen Menschen jährlich nicht länger als eine Stunde einer höheren Ozonkonzentration als 0.11 Teile pro eine Million Luftteile ausgesetzt sein. In den vergangenen Jahren waren es die Bewohner der Hauptstadt für 1.400 Stunden, allein im Februar lagen die Werte an 20 Tagen weit über der Norm der WHO. Ärzte warnen davor, daß Ozon, Produkt einer fotochemischen Reaktion zwischen Sonneneinstrahlung und in der Luft vorhandenen Stickoxiden, langfristig zu chronischen Lungenschäden und Krebs führen kann. Betroffen sind vor allem ältere Menschen, Kinder und Personen, die bereits herz- und lungenkrank sind. Sportunterricht oder andere Aktivitäten außerhalb der Klassenzimmer finden seit Monaten nicht mehr statt. Nahezu alle Privatschulen informieren sich bei unabhängigen Umweltorganisationen über die Luftwerte. Smog- Alarm ist Alltag für die Kinder der Hauptstadt. „Wenn die rote Fahne hochgezogen wird“, erzählt eine achtjährige Schülerin, „schließen wir uns im Klassenzimmer ein und halten uns feuchte Tücher vor den Mund.“ Wer es sich leisten kann — bei einem Durchschnittspreis von rund 1.000DM sind das die wenigsten — stellt sich einen Luftreinigungsfilter in die Wohnung.

Mexikos Umweltschützer kritisieren den durchweg kosmetischen Charakter der Regierungsmaßnahmen. „Wir brauchen tiefgreifende Vorschläge“, fordert Alfonso Pérez Contreras, Direktor des Autonomen Instituts für Ökologische Forschung, „aber statt dessen verspricht man uns immer wieder zusammengeflickte Notlösungen.“ Als „Hinhaltetaktik“ bezeichnen Ökologen den vom Umweltministerium beschlossenen Probelauf eines neuen Projekts des Ingenieurs und Oppositionspolitikers Herberto Castillo zur Bekämpfung der Luftverschmutzung. Castillo, der noch im vergangenen Jahr vorgeschlagen hatte, riesige Löcher in den im Südosten gelegenen Berg Ajusco zu sprengen, um so ein Abziehen der angestauten Dreckmassen zu ermöglichen, will nun 1.500 Windmühlen, er selbst bezeichnet sie als „Mini- Hurrikane“, auf den höchsten Gebäuden der Hauptstadt anbringen lassen, die den Dreck dann hoch in die Luft und über die Bergketten um die Stadt hinauswirbeln sollen.

Am Donnerstag hat die Luftverschmutzung in der Hauptstadt erneut alarmierende Werte erreicht. StufeI wurde in Kraft gesetzt. Sybille Flaschka